Und sie ist doch gekommen. Als die Halbschwester von Jan Heisig den Gerichtssaal in Konstanz betritt, sieht sie nicht herüber zu dem kahlköpfigen Mann. Auf der Anklagebank sitzt ihr Ex-Freund, dem hier wegen Mordes an ihrem Halbbruder der Prozess gemacht wird. Mit müden Augen, in Kapuzenpullover und Jeans, nimmt die hagere Frau Platz. An ihrer Seite: ihr Anwalt aus Konstanz, Sandro Durante.
Die Frau könnte viel Licht ins Dunkel bringen, was an jenem 2. Juni 2019 und den Tagen danach im Haus in Gaienhofen-Hemmenhofen passiert ist, als Jan Heisig starb. Dass die Halbschwester im Haus war, steht außer Frage. Sie geriet schnell ins Visier der Ermittler und saß auch kurzzeitig in Untersuchungshaft, ehe sie aus Mangel an gerichtsfesten Beweisen entlassen wurde.

Die 50-Jährige wird von Richter Arno Hornstein auch gleich belehrt: Sie ist zur Wahrheit verpflichtet, falsche Angaben sind strafbar. Sie sei heute aber als Zeugin hier und nicht als Beschuldigte. Dennoch müsse sie auf keine Fragen antworten, wenn sie sich damit selbst belasten würde. Man habe zwar die Leiche ihres Halbbruders gefunden, dadurch wisse man aber nicht, was genau passiert ist.
Und der Angeklagte hatte in seiner Einlassung viel über sie gesagt, zu dem sie nun Stellung beziehen könnte – was dran sei an angeblichen sexuellen Übergriffen ihres Bruders, von denen sie dem Angeklagten berichtet haben soll.
Es bleibt Schweigen
Doch Anwalt Durante hakt gleich ein, verweist auf ihr Auskunftsverweigerungsrecht – und gibt ein Stichwort, das bei Hornstein „Hautausschlag auslöst“: Mosaiktheorie. Jedes einzelne Wort, das seine Mandantin hier sage, könne einen Anfangsverdacht der Staatsanwaltschaft begründen. In der Folge scheitert jeder Versuch, von der Frau Antworten zu bekommen.
Auch dann, als Oberstaatsanwalt Egon Kiefer ihr erklärt, dass das Verfahren gegen sie im Hinblick auf die Tatbeteiligung eingestellt wurde. Und er keinen Anlass sehe, das wieder aufzunehmen. Die Halbschwester bestätigt im Prozess aber nur, dass sie wegen eines Drogendelikts zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Mehr nicht. Es bleibt Schweigen.
Mike W. empört sich über „Hobbypsychologen“
Zu seiner Ex-Freundin verliert Mike W. kein einziges Wort, während sie im Saal ist. Doch als später der psychiatrische Gutachter Herrmann Assfalg im Saal spricht, bricht es plötzlich aus ihm heraus. Lautstark empört er sich über den Sachverständigen als „Hobbypsychologen“. Assfalg baue seine Einschätzung auf dem „Schwachsinn“ eines Zeugen auf, klagt W. und betont: Er werde hier als empathielos dargestellt – dabei sei das Gegenteil der Fall, er habe zu viel davon.
W. zum Gutachter: „Sie sind doch nur sauer, weil ich nicht mit Ihnen gequatscht habe.“ – Assfalg: „Herr W., ganz sicher nicht.“ Dann greift Hornstein ein, das geht ihm zu weit. Er ermahnt W.: „Sie sollten lieber was zur Sache sagen.“ Der Fall sei trotz Leichenfunds nicht gelöst, über vieles sein man nach wie vor im Unklaren. „Und dann sollen wir ein gerechtes Urteil finden.“
Mehrfach versucht die Kammer, dem Angeklagten zu erklären, was er offenbar übersieht: Der Gutachter ist verpflichtet, sämtliche Anknüpfungstatsachen aus dem Prozess zu berücksichtigen – ob er selbst mit W. gesprochen hat oder nicht. Das schließt auch frühere Gutachten und Aussagen von Zeugen ein, deren Glaubwürdigkeit später allein das Gericht zu beurteilen hat. Assfalgs Aufgabe ist es, diese Anhaltspunkte zu prüfen und in seine Bewertung einzubeziehen, unabhängig davon, welche Teile die Kammer als glaubwürdig einstuft.
„Dissoziale Persönlichkeitsstörung“
Der Facharzt für forensische Psychiatrie hatte zuvor ausgeführt, er sehe bei Mike W. trotz seiner schweren Suchterkrankung „keine Einschränkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit“. Die Steuerungsfähigkeit sei zur Tatzeit nicht beeinträchtigt gewesen.
Auch die Hoffnung auf eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) zerschlägt Assfalg: Trotz seiner Suchterkrankung habe Mike W. die Kontrolle über seine Handlungen und Emotionen behalten. Er habe auch Zweifel, dass W. wirklich abstinent sein wolle. Eine krankhafte seelische Störung in Form einer dissozialen Persönlichkeitsstörung liege zwar vor, doch führe sie nicht zu einer verminderten Schuldfähigkeit.
Wann kann Jan Heisig beerdigt werden?
Es war nicht das erste Mal, dass Mike W. in dem Prozess selbst sprach. Als am Mittwoch zuerst über die Freigabe des Leichnams gesprochen wurde, um die sich Nebenklage-Vertreter Daniel Heuser bemühte, meldete sich W. zu Wort. Er wandte ein, noch etwas von der Pathologin wissen zu wollen, die vergangene Woche ausgesagt hat.
„Natürlich ist er durch mich gestorben“, sagt er selbst, „aber ich weiß, dass er noch zwei Tage danach gelebt hat.“ Als er ihn tot fand, nachdem er Heisig Alkohol gegeben hatte, habe er noch versucht, ihn wiederzubeleben. Richter Hornstein reagiert vorsichtig auf diese Aussagen: „Ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass Ihre Schläge schuld an dem Tod waren.“
Die Freigabe des Leichnams von Jan Heisig wurde am Mittwoch nicht beschlossen. Die offene Frage wolle man noch klären. Für die Angehörigen bedeutet das, dass sie nach über fünf Jahren weiterhin auf die Beerdigung warten müssen.
Der Prozess wird fortgesetzt, allerdings erst im neuen Jahr. Am 20. Januar soll dann Hauptsachbearbeiter der Kriminalpolizei aussagen. Ein Urteil wird für Mitte Februar erwartet.