In der Notaufnahme im Klinikum Konstanz ist an diesem Montagnachmittag nicht viel los. Neun Patienten sitzen im Wartebereich, einer hat den Arm eingegipst, ein anderer trägt eine Schiene am Bein. „Normalerweise haben wir um diese Zeit schon circa 50 Patienten aufgenommen. Jetzt sind wir bei 39“, sagt Romina Mirt, die die Patienten am Empfang aufnimmt.

Ein Elternpaar tritt nach vorne, ihr Sohn hatte über das Wochenende über 40 Grad Fieber und Hautausschlag. Verdacht: Scharlach. Sie sind eigentlich zum Urlaub am Bodensee. Mirt überweist sie ins Kinderklinikum.

Mangel an Pflegekräften in der Notaufnahme

Fälle wie dieser kommen in der Notaufnahme Konstanz häufig vor. Vor allem in den Sommermonaten erscheinen viele Touristen in der Klinik, die am Bodensee keinen Hausarzt haben. 2022 sind im Vergleich zum Vorjahr 15 Prozent mehr Patienten in die Notaufnahme gekommen. Gleichzeitig steht aber immer weniger Personal zur Verfügung. „Der Mangel an Pflegekräften macht uns jeden Tag das Leben schwer“, sagt Ivo Quack, Chefarzt und Leiter der Notaufnahme Konstanz.

Ivo Quack, Leiter der Notaufnahme am Klinikum Konstanz.
Ivo Quack, Leiter der Notaufnahme am Klinikum Konstanz. | Bild: Glkn

Immer mehr Einsätze, aber nicht mehr todkranke Patienten

Auch in die Notaufnahme am Schwarzwald-Baar-Klinikum in Villingen-Schwenningen kommen immer mehr Patienten. Vergangenes Jahr wurde ein neuer Höchststand erreicht: 50.000 Patienten wurden aufgenommen. Besonders deutlich werden die hohen Zahlen in der Kindernotaufnahme: Fast 45 Prozent mehr Patienten werden hier inzwischen behandelt.

Bernhard Kumle leitet die Klinik für Notfallmedizin am Schwarzwald-Baar-Klinikum. „Die Zahl der Rettungsdienst- und Notarzteinsätze ist enorm gestiegen, gleichzeitig ist die Zahl der todkranken Patienten aber nicht im gleichen Maße angestiegen.“ Das bedeutet: Es kommen immer mehr Menschen wegen kleinerer Beschwerden.

Hohe Erwartungen an die Notaufnahme

Kumle stellt zudem fest, dass sich auch die Anforderungen der Patienten verändert habe: „Die Erwartungshaltung ist massiv gestiegen. Die Menschen denken, wenn sie einen Krankenkassenbeitrag zahlen, stehen ihnen rund um die Uhr alle Geräte und Leistungen zur Verfügung.“ Diese Erwartungen könnten die Krankenhäuser aber gar nicht erfüllen.

Prof. Dr. med. Bernhard Kumle, Direktor der Akut- und Notfallklinik im Schwarzwald-Baar Klinikum.
Prof. Dr. med. Bernhard Kumle, Direktor der Akut- und Notfallklinik im Schwarzwald-Baar Klinikum. | Bild: Carolin Jacklin, Schwarzwald-Baar-Klinikum

Dass die Notaufnahmen schon seit einiger Zeit überlastet sind, ist ein bundesweites Problem. Ein Grund: Die geburtenstarken Jahrgänge werden älter, die Lebenserwartung steigt und damit kommen mehr Menschen in die Notaufnahme. Ein anderes Problem: Menschen, die bei ihrem Facharzt keinen Termin erhalten, gehen stattdessen zur Notaufnahme ins Krankenhaus.

KBV-Chef fordert Gebühr

Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, hatte deshalb Mitte April vorgeschlagen, eine Gebühr für Patienten einzuführen, die ohne vorherige Anmeldung in der Notaufnahme erscheinen. Damit möchte er verhindern, dass Patienten einfach auftauchen und wegen Lappalien die Zeit der Pflegekräfte in Anspruch nehmen.

Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, Karsten Braun, hält eine solche Gebühr ebenfalls für sinnvoll. Es sei wichtig, die Patienten in die richtige Versorgungsebene zu lenken. Dafür brauche es eine medizinische Ersteinschätzung, beispielsweise per Telefon. Dann könnten Patienten zum Beispiel in die Notaufnahme oder in eine ärztliche Sprechstunde verwiesen werden. „Nur diejenigen, die sich nicht an die zugewiesene Versorgungsebene halten, und ich betone nur die, sollten eine Gebühr zahlen“, so Braun.

Karsten Braun, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung, Baden-Württemberg.
Karsten Braun, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung, Baden-Württemberg. | Bild: Norman Ill, KVBW

Vorschlag stößt auf Kritik

Der Vorschlag von Andreas Gassen stieß aber auf viel Kritik, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach lehnte die Gebühr bereits ab. Patientenschützer sehen die Kassenärzte selbst in der Bringschuld. Diese müssten den ärztlichen Bereitschaftsdienst ausbauen und die Öffnungszeiten der niedergelassenen Ärzte verlängern. „Deshalb müssen zunächst die Verbände der Kassenärzte ihre Hausaufgaben machen“, sagte der Vorsitzende der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch.

Zu wenig Nachwuchs für die Hausärzte

„Herr Brysch lebt in Fantasiewelten, denn wir können uns keine Ärztinnen und Ärzte backen“, sagt Karsten Braun auf Nachfrage des SÜDKURIER. Es gebe schlicht zu wenig medizinischen Nachwuchs. Das Problem werde sich verschärfen, wenn die Baby-Boomer-Generation in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehe.

Das sieht auch Till Reckert so. Er ist Kinderarzt in Reutlingen und Pressesprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte Baden-Württemberg. „Jeder gibt sich schon so viel Mühe wie er kann“, sagt er. Niedergelassene Ärzte seien froh, wenn sie wirtschaftlich arbeiten könnten. „Aber wenn niemand mehr da ist, können auch keine Notdienste mehr übernommen werden.“

Till Reckert, Kinderarzt und Pressesprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugenärzte Baden-Württemberg.
Till Reckert, Kinderarzt und Pressesprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugenärzte Baden-Württemberg. | Bild: Till Reckert / Kinderärzte im Netz

Gebühr kommt in der Region nicht gut an

In den Notaufnahmen in der Region kommt die Gebühr für die Notaufnahme nicht gut an. „Ich halte diese Gebühr nicht für zielführend“, sagt Ivo Quack von der Notaufnahme Konstanz. Er befürchtet, dass sie Menschen abhalten könnte, die wirklich in die Notaufnahme müssen.

Und dass die Gebühr von einigen Menschen als eine Art Ablassgebühr betrachtet wird. „So nach dem Motto: Jetzt habe ich bezahlt, jetzt möchte ich auch die Leistung erhalten.“ Damit habe man jetzt schon ein großes Problem. Respektlosigkeit gegenüber dem Personal am Empfang sei an der Tagesordnung.

Reform-Vorschlag sieht Einrichtung integrierter Leitstellen vor

Besser anfreunden kann sich Quack mit dem Vorschlag einer Regierungskommission, die Gesundheitsminister Karl Lauterbach beauftragt hatte. Der Vorschlag sieht vor, integrierte Leitstellen einzurichten. Derzeit sind Anrufe über die Notrufnummer 112 und den ärztlichen Bereitschaftsdienst 116117 nicht miteinander verbunden.

Laut Vorschlag der Kommission könnten die Anrufe beider Nummern bei einer Leitstelle eingehen. Dort würde eine telefonische Ersteinschätzung vorgenommen werden und die Patienten in die entsprechende Struktur zugewiesen – ähnlich wie der KVBW-Vorsitzende Karsten Braun sich das vorstellt.

Nicht alle Fälle können telefonisch geklärt werden

Mit so einer Erstberatung könnte eine grobe Einschätzung erfolgen, sagt Ivo Quack aus Konstanz. Aber es gibt auch Bedenken: „Manche Dinge kann am Telefon nicht klären. Patienten kommen zu Fuß herein und dann stellt sich heraus, dass sie schwer verletzt sind“, sagt Bernhard Kumle von der Notaufnahme Villingen-Schwenningen.

Er berichtet von einem Mann, der zu Fuß in die Notaufnahme gekommen ist, weil ein Freund ihn überredete. Später stellte sich heraus, dass er aus acht Metern Höhe heruntergefallen war und schwere Verletzungen erlitten hatte. Solche Fälle lassen sich per Telefon nur schwer einschätzen.

„Eine Ersteinschätzung wäre gut, aber sie reicht nicht aus“, sagt Kumle. Stattdessen hat er andere Forderungen: „Die Notaufnahme ist von der Politik nie richtig beachtet worden“, sagt Kumle. Er fordert, dass die Notfallversorgung als Daseinsvorsorge betrachtet wird, ähnlich wie die Feuerwehr. Dazu gehöre auch, dass sich die Finanzierung der Krankenhäuser ändern müsse. Die Krankenkassen zahlen den Krankenhäusern eine Fallpauschale, die zum Beispiel ärztliche Leistungen und Sachkosten wie etwa Medikamente umfasst. In der Notaufnahme sind aber die Vorhaltekosten besonders hoch.

Über telefonische Erstberatung können nicht alle Fälle aufgefangen werden.
Über telefonische Erstberatung können nicht alle Fälle aufgefangen werden. | Bild: Fröhlich, Jens

Notaufnahmen arbeiten defizitär

Vorhaltekosten meinen alle Kosten für Personal, Geräte und andere Ressourcen, die in einer Notaufnahme dauerhaft bereit stehen müssen, ohne dass sie unbedingt von Patienten in Anspruch genommen werden. Denn längst nicht jeder Patient in der Notaufnahme muss operiert werden: Am Schwarzwald-Baar-Klinikum sind vor knapp zehn Jahren noch die Hälfte aller Patienten aus der Notaufnahme stationär aufgenommen worden. Inzwischen sind es nur noch 30 Prozent.

Weil Patienten mit leichten Beschwerden erscheinen, aber die Geräte und Mediziner dennoch bereitstehen, macht die Notaufnahme dauerhaft rote Zahlen. „Die Notaufnahme arbeitet derzeit defizitär, das muss sich dringend ändern“, sagt Kumle.

Zudem müsste die hausärztliche Versorgung verbessert werden, durch mehr Studienplätze, aber auch durch Anreize, damit junge Mediziner als Hausärzte arbeiten wollen. Und eine Forderung hat Kumle auch in Richtung der Patienten: „Die Flatrate-Mentalität muss sich ändern. Patienten müssen wieder mehr Verantwortung für sich selbst übernehmen.“ Wegen eines Durchfalls müsse man nicht direkt in die Notaufnahme kommen.