Herr Hämmerle, vor rund fünf Jahren erreichte die Flüchtlingskrise ihren Höhepunkt. Am Wochenende des 4. und 5. September 2015 ließ die Bundesregierung Tausende von Migranten nach Deutschland, die von Ungarn kommend in Österreich gestrandet waren. Sie waren damals Landrat und sagten: „Wir schaffen es nicht, wenn es so weitergeht.“ Wie steht es heute?
Die Frage ist: Wer ist „wir“? Und was ist „das“? Das Landratsamt sollte die Menschen unterbringen, die uns das Regierungspräsidium zuweist. Das waren im Lauf der Monate einige Tausend ganz auf die Schnelle. Die Wohnungen mussten erst einmal gefunden werden.
Wie machten Sie das damals?
Im Januar 2016 wurde uns gesagt, dass wir in den nächsten vier Wochen 556 Menschen Quartier bieten sollen, dazu Verpflegung und medizinische Versorgung einschließlich Tuberkulose-Untersuchung. Diesen Teil haben wir geschafft. Doch wer ist wir? Das sind vor allem die Gemeinden und Kreise. Die Kanzlerin hat viel getan und gesagt – aber nicht mit der Hand am Arm. Die praktische Umsetzung blieb unten hängen, das ist es.

Was heißt geschafft?
Geschafft ist es, wenn die Leute integriert sind, wenn sie unsere Werte annehmen, arbeiten und Steuern bezahlen.
Ist das gelungen?
In meinen Augen ist sie nicht gelungen. Sicherlich gibt es Ansätze und gute einzelne Ergebnisse. Einige fanden Arbeit vor allem im Bereich Dienstleistung. Aber ich stelle fest, dass es eben auch „Horden von jungen Männern“, wie Winfried Kretschmann sagt, gibt, die unsere Ordnung ablehnen, die Polizei verhöhnen und auslachen. Wir beobachten doch die Vorfälle in großen Städten wie die Silvesternacht in Köln, dann in Hamburg, Stuttgart oder Freiburg. Ich sehe noch immer ein großes Potenzial an jungen Männern, die den Staat nicht akzeptieren und seine Autorität missachten…

... sehen Sie keine Besserung?
Nein, ich fürchte eher, dass sich nichts ändern wird.
In vielen Geschäften trifft man heute auf junge Leute, die mit ihren Eltern vor fünf Jahren kamen. Sie machen ihre Lehre in Deutschland und sprechen gut Deutsch.
Das finde ich großartig. Ich sprach damals mehrfach mit den Schülern der Flüchtlingsklassen in unseren Berufsschulen in Singen. Ich stellte mich vor die Klasse und sagte: „Ich erwarte von euch, dass ihr die Lehre abschließt. Und dass Ihr morgens pünktlich da seid, Hausaufgaben macht und lernt.“ Die provokante Begrüßung kam gut an.
Sind Sie da nicht zu streng? Man kann auch Begrüßungspakete mit Jeans aushändigen.
Nein, wenn es ernsthaft vorgetragen wird, wird es akzeptiert. Wenn wir nicht klare Kante zeigen, werden Werte auch nicht verinnerlicht. Sonst sagen sie: „Es passiert ja doch nichts.“ Betreuung kann nicht nur Wohlfühlen umfassen. Flüchtlinge erwarten klare Ansagen.

Sie wurden damals bundesweit bekannt als Kritiker der Kanzlerin. Ein CDU-Landrat aus dem Süden distanziert sich von Angela Merkel, das war damals ein Ding.
Dabei habe ich nur meine Skepsis vorgebracht. Mit der blauäugigen Willkommenskultur von damals fremdle ich bis heute. Teddybären wurden an die wenigen Kinder verteilt, die kamen.
Hätte man diese Migranten denn aussperren sollen?
Nein, es war richtig, dass man die Menschen hereinlässt, als sie an der Grenze zu Bayern standen. Das war eine Eilentscheidung, die geht in Ordnung. Doch dann hätte man das Ganze parlamentarisch beraten müssen. Das ist nicht geschehen. Das werfe ich Angela Merkel vor. Der Bundestag hat sich später viel mit den Geflüchteten beschäftigt, aber immer nur mit den Folgen, nicht mit den Ursachen. Das alles hat die klassischen Parteien viel an Glaubwürdigkeit gekostet. Die Folgen sehen Sie bei der letzten Wahl 2017.
Nämlich?
Ich ziele auf das Hochkommen der strammen Rechten. Die AfD wäre ohne die massenhafte Einwanderung nicht so stark, wie sie jetzt ist. Die Flüchtlingskrise hat die AfD nach oben gebracht, sie sitzt jetzt in allen Landesparlamenten.
Dann sind Sie näher an der Linie von Horst Seehofer.
Ich kenne ihn persönlich, der Mann ist ein Gesamtkunstwerk.

Nach ihren Merkel-kritischen Interviews wurden sie bundesweit bekannt. Bis in die Tagesschau.
Ja, da habe ich einiges erlebt. Ich wurde 2016 dann angerufen, ob ich beim ZDF-Sommerinterview mit Angela Merkel als Überraschungsgast auftreten will. Ich sagte zu, natürlich, mit feuchten Händen. Der Flug war bereits gebucht vom ZDF. Wenig später kam ein zweiter Anruf, bedauernd. Das ZDF sagte mir, dass die Kanzlerin keinen Überraschungsgast im Studio haben wollte. Also stand sie alleine Rede und Antwort im Interview. Ohne Landrat.
Das Kanzleramt hat Sie verhindert?
Weiß ich nicht. Aber den Überraschungsgast Hämmerle wollte sie nicht.

Was hätten Sie ihr gesagt?
Ich hätte ihr treu die Schwierigkeiten vor Ort referiert und hätte sie gefragt, ob wir das überhaupt wollen! Kein Landrat und kein Bürgermeister ist gefragt worden, ob er eine Masseneinwanderung will und ob er sich das vorstellen kann und ob das seiner Gemeinde gut tut. Die Frage hätte man ja stellen können.
Sie sagten in einem SÜDKURIER-Interview damals: Jetzt bekommen wir einen anderen Staat. In welchem Staat leben wir jetzt?
Sehen Sie selbst: Wir haben eine rechtsradikale Partei, die in vielen Parlamenten sitzt. Die gefühlte Sicherheitslage ist schlechter als vorher. In Großstädten explodiert es, schauen sie zum Stuttgarter Schlossgarten, Plünderungen inklusive. Ich sehe mich in meinen Befürchtungen bestätigt.
Schon vor der großen Welle waren sie Sie kein Merkel-Anhänger, weil die Kanzlerin ihre Nachfolge nie regeln wollte.
Bisher hat es kein Kanzler geschafft, für die Zeit danach zu sorgen. Konrad Adenauer versuchte, Ludwig Erhard zu verhindern. Helmut Kohl wäre heute noch Bundeskanzler, wenn es nach ihm gegangen wäre. Vielleicht steckt die Blockade im System.

Als die Not an Wohnungen am größten war, wurde auch an Privatleute appelliert: Nehmt einen Flüchtling auf oder eine Familie, hieß es damals. Würden Sie einen aufnehmen?
Hier in meiner Situation mit den Enkeln im Haus nicht. Ich hätte auch nicht die Infrastruktur und die Zeit, um mich darum zu kümmern. Wer so etwas macht, muss die Werte vorleben und sich um die Menschen in seinem Haus kümmern.
Was kostet die Integration?
Die staatlichen Leistungen belaufen sich auf geschätzt 10.000 Euro pro Jahr und Flüchtling. Eine saubere Rechnung darüber existiert nicht, aus folgendem Grund: Die Hilfen fließen aus den verschiedensten Quellen, beginnend beim Land, den Kreisen, Kommunen, die plötzlich neue Kitas bauen sollen für die Kinder. Dann der Bund. Oder die Krankenkassen, die über die Pflichtversicherung jedes Asylsuchenden hinaus noch drauflegen, wenn der Betrag nicht reicht. Die Bilanz ist noch nie aufgemacht worden, wir kennen den exakten Betrag nicht. Vielleicht will man ihn gar nicht wissen.
Im Moment legt sich die Pandemie wie ein Deckel über alles andere.
Corona wird irgendwann vorbei sein. Wir werden aber wieder den Zuzug von Flüchtlingen erleben, da bin ich mir sicher. Es ist eine Frage der Zahl. Wir müssen steuern dürfen, wie viele Menschen kommen. Was die Kanzlerin damals angefangen hat, wollen wir kein zweites Mal erleben.
Horst Seehofer verlangte damals eine Obergrenze für ankommende Flüchtlinge.
Diese ist grundsätzlich richtig. Sie orientiert sich an der Frage, was machbar ist und was nicht.
Denken Sie, dass wir eine zweite Flüchtlingswelle erleben werden – vergleichbar 2015?
Wenn die Außengrenzen nicht gesichert werden, wird das fortlaufend passieren. Weltweit wird es immer Kriege geben, leider. Zurzeit eskaliert die Lage im Libanon. Und Syrien ist so wenig befriedet wie vor fünf Jahren. Dazu kommt die Veränderung des Klimas, die Menschen aus ihrer Heimat vertreibt.