Rechts neben dem Tunnel donnert die Lonza durch ihr enges Flussbett. Das braune Wasser schäumt. Vor dem Tunnel baut sich ein Wachposten auf. Der Mann in Orange verlangt die Papiere und knurrt: „Wir wollen hier keinen Katastrophentouristen. Nur Anwohner, Sicherheitsleute, Spezialisten und Medien dürfen weiter.“

Er beäugt die Papiere, gibt seine Einwilligung zur Weiterfahrt hinauf ins Lötschental. Es liegt im Wallis, dem urwüchsigen Kanton im Süden der Schweiz.

Die Straße führt an Felswänden, Wiesen und Bächen vorbei. Wolken drücken sich tief in das zerklüftete Gebiet. Die mehr als zwanzig 3000-Meterriesen entziehen sich dem Auge, auch das Bietschhorn (3934 Meter) verbirgt sich.

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Im ersten Dorf, Ferden, sind nur wenige Einheimische unterwegs. In Hotels und Restaurants wie dem Ferdania brennt kein Licht. Auch die zweite Siedlung, Kippel, wirkt unbewohnt.

Der Fremdkörper entstand am 28. Mai

Über Wiler, dem dritten Dorf, dröhnt ein Hubschrauber, er zieht einen Baumstamm durch die Luft. Der Ausgang von Wiler ist abgeriegelt. Polizisten, Soldaten und Feuerwehrleute bewachen den einzigen großen Zugang zum Sperrgebiet. Ein Uniformierter sagt streng: „Weitergehen verboten, Lebensgefahr.“

Etwa zwei Kilometer talaufwärts türmt sich eine unheimliche grau-braune Masse auf. Der gigantische Fremdkörper, bedrohlich, lebensfeindlich, entstand am 28. Mai gegen 15.15 Uhr.

Hier kam die Geröll-Lawine herunter.
Hier kam die Geröll-Lawine herunter. | Bild: Jan Dirk Herbermann

Zuvor waren große Teile des Birchgletschers abgebrochen. Gespickt mit Geröll, Bäumen und Erde polterte die Eislawine hinunter auf Blatten, das vierte Dorf im Tal. Blatten galt als die Perle des Quartetts.

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Sogar die Kirche verschwand

Der wilde Strom zerstörte Häuser, Gehöfte und Hotels, vernichtete Straßen und Wege und ließ sogar die Kirche verschwinden. Fast alle zunächst unversehrten Gebäude versanken später im zähen Brei der aufgestauten Lonza.

Blatten, das erstmals im Jahr 1433 schriftliche Erwähnung fand, wurde von einer der schlimmsten alpinen Naturkatastrophen der Neuzeit heimgesucht. Der Bürgermeister Matthias Bellwald, ein früherer Oberst der Schweizer Armee, sagte: „Wir haben das Dorf verloren, aber nicht das Herz.“ Es war ein Satz, der um die Welt ging.

Ein Luftbild zeigt ein zerstörtes Haus im Hochwasser des Flusses Lonza. Ein großer Teil des Dorfes Blatten im Lötschental im Kanton ...
Ein Luftbild zeigt ein zerstörtes Haus im Hochwasser des Flusses Lonza. Ein großer Teil des Dorfes Blatten im Lötschental im Kanton Wallis wurde unter den Massen von Eis, Schlamm und Felsen begraben. | Bild: Michael Buholzer, dpa

Aufräumarbeiten sind zu gefährlich

Mehr als eine Woche nach dem Megaschock sind fast alle Kameras abgebaut, die meisten Reporter abgerückt. Ob, wann und wie der Schuttkegel mit einem Volumen von zehn Millionen Kubikmetern abgetragen werden kann, weiß niemand. „Aufräumarbeiten sind immer noch zu gefährlich“, sagte ein Feuerwehrmann.

Und die Geologen warnen vor weiteren Fels- und Schlammlawinen, die sich aus den unruhigen Höhen ins Tal bewegen. Die Gefahr ist nicht gebannt. Überschattet von der Ungewissheit kämpfen sich die Menschen im Lötschental in ihr Leben zurück, schwankend zwischen Schmerz, Resignation und Hoffnung.

Ein Blick auf das Kleine Nesthorn zeigt die Spuren der Felsen die oberhalb des Dorfes Blatten abbrachen und ins Tal rutschten.
Ein Blick auf das Kleine Nesthorn zeigt die Spuren der Felsen die oberhalb des Dorfes Blatten abbrachen und ins Tal rutschten. | Bild: Cyril Zingaro, dpa

„Frauen, Männer und Kinder leben seit Jahrhunderten im Rhythmus der rauen Natur, sie arrangieren sich mit Lawinen, Eis und Kälte“, erzählt der Lokalhistoriker Matthias Grüninger und blinzelt in die Frühjahrssonne. „In alten Zeiten war unser Tal im Winter oft wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten.“

„Talbewohner werden diese Prüfung meistern“

Der knorrige Mann in seinen Sechzigern läuft an der Absperrung entlang und zeigt Richtung „Kleines Nesthorn“. Es ist der unheilvolle Berg, der langsam zerfiel und die Lawine auslöste. Grüninger, früher Pfarrer, liebt das Lötschental. Wegen seiner Schönheit. Wegen seiner Schroffheit. Dann verspricht er: „Die Talbewohner werden auch diese Prüfung meistern.“

Am Ortsanfang von Wiler steht das Hotel „Sporting“. Die Gaststätte ist rappelvoll. Ein Gemisch aus dem schweren Dialekt des Tales, dem Leetschaeru, anderen Schweizer Mundartformen und Hochdeutsch wabert durch den Saal.

An einem Tisch hocken sieben Männer, kräftig, kantig. „Ja, das Donnern und Dröhnen war das Schlimmste an dem Tag, so muss sich der Weltuntergang anhören“, sagt einer.

Bild 4: "Das Donnern war das Schlimmste": Menschen aus Blatten erzählen von Katastrophe
Bild: Jan Dirk Herbermann

Auch Tiere mussten das Dorf verlassen

Wortfetzen. Es geht um das Staubecken in Ferden, Abfluss, Turbinen und Bagger. Und es geht um die 300 Evakuierten von Blatten. Vor dem Lawinenabgang hatten die Behörden notgedrungen die komplette Räumung angeordnet.

Menschen, auch Kühe, Schafe und Ziegen mussten das Dorf verlassen. Nur ein 64-jähriger Mann wird noch immer vermisst. Hatte er sich trotz der Gefahr nach Blatten zurück gewagt? „Der war zur falschen Zeit am falschen Ort“, sagt schulterzuckend ein Mitarbeiter des Zivilschutzes.

Auch sie wurden aus Blatten evakuiert: Schafe, die hier gerade im Nachbarort Wiler weiden.
Auch sie wurden aus Blatten evakuiert: Schafe, die hier gerade im Nachbarort Wiler weiden. | Bild: Jan Dirk Herbermann

15 Minuten Zeit für die Evakuierung

Der Wirt zapft Bier. Er beugt sich herüber und sagt leise: „Man sieht es den Leuten an, die aus Blatten stammen.“ An einem Tisch am Fenster sitzen zwei Männer und eine Frau. „Ja, wir drei sind in Blatten geboren und haben dort gelebt, von der Wiege auf“, erzählt der 78-jährige Albert Bellwald.

Sein Vetter Konstantin Lehner, 85 Jahre, nickt. Gemma Lehner, 82, faltet die Hände. Die Senioren aus dem untergegangenen Ort wirken gefasst. „Wir wollen unser Bild aber nicht in der Zeitung sehen“, macht Konstantin Lehner klar.

Albert Bellwald übernimmt das Wort. Der knorrige Ex-Beamte mit dem stechenden Blick berichtet von der Evakuierung. Die drei hatten 15 Minuten Zeit, um ihre Sachen zu packen. Sie konnten fast nur die Kleider am Leib mitnehmen.

Erinnerungen mussten zurückbleiben

Bellwald ließ sein Haus aus dem Jahr 1676 hinter sich – und nahezu alles, was ihm noch lieb und teuer war: Fotos, Schriften, Briefe, Dokumente über Hochzeit und Geburt. Die Erinnerungen. Die Heimat.

Vor zehn Jahren starb Alberts Frau, während eines Urlaubs in Österreich. „Und jetzt das“, sagt er stockend und wendet den Kopf zum Fenster. Bellwald ist bei seinem Sohn in Visp, im großen Tal der Rhone, untergekommen.

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Menschen zweifeln an ihrem Glauben

Das Ehepaar Lehner wurde vom Krisenstab vorübergehend in einer Ferienwohnung in Wiler einquartiert. Später müssen sie dann weiter nach Kippel ziehen. Welche Gefühle überkommen einen Menschen, wenn er in einer späten Lebensphase ein derartiges Unglück erlebt?

Gemma Lehner schaut auf. Mit traurigen Augen sagt sie: „Man zweifelt schon, auch am Glauben.“ So wie Gemma empfinden viele im Tal, besonders die alt Eingesessenen.

Selbst dem Pfarrer des Gebiets, Thomas Pfammater, fällt es schwer, das Unbegreifliche zu erklären. „Es passieren schlimme Sachen, wir wissen nicht, warum“, sagte er kurz nach dem apokalyptischen Schlag gegen Blatten. Ein Gespräch mit dieser Zeitung lehnte der Gottesmann höflich ab: „Danke für Ihr Verständnis.“

Schaden lässt sich nur schätzen

Der gesamte materielle Schaden in dem zermalmten Dorf lässt sich nur schätzen. Der Schweizerische Versicherungsverband geht von mehreren Hundert Millionen Euro aus. „Dazu kommen natürlich die Folgekosten“, sagt Lukas Kalbermatten.

Ihm gehörte das Hotel Edelweiss in Blatten, eine der ersten Adressen im Tal. Das Edelweiss geht auf Kalbermattens Großeltern zurück. Er und seine Frau investierten viel Geld und Herzblut in das Haus: „Natürlich sehen wir das Edelweiss nie mehr wieder, das ist weg.“

Hotelier Lukas Kalbermatten hat seine Existenz verloren.
Hotelier Lukas Kalbermatten hat seine Existenz verloren. | Bild: Jan Dirk Herbermann

Der Hotelier bleibt ruhig – trotz der Vernichtung seiner Existenz. Immerhin hat er für die nächste Zeit eine sichere Bleibe für sich und seine Liebsten gefunden. Er rückt seine Brille gerade und sagt: „In den kommenden Wochen muss ich noch einen Job finden.“ Zum Abschluss des Gesprächs gibt es ein Schulterklopfen. Kalbermatten verschwindet in den Gassen von Wiler.

Auch das winzige Liechtenstein hilft

Am siebten Tag nach dem Desaster vom Lötschental macht die Regierung des Wallis zehn Millionen Franken Soforthilfe für die Opfer von Blatten frei; andere Kantone und der Schweizer Bund sagen ebenso Gelder für die Blatten-Hilfe zu. Selbst das winzige Fürstentum Liechtenstein östlich der Schweiz will 100.000 Franken überweisen.

„Wenn eine Katastrophe passiert, stehen wir zusammen“, gibt die Walliser Finanzministerin Franziska Biner die Parole aus. Ist die angekündigte Geldhilfe bei den Betroffenen schon angekommen?

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Die Eheleute Lehner schweigen. Der frühere Staatsdiener Bellwald schüttelt den Kopf. „Geflossen ist noch nichts“, brummt Bellwald. „Bislang sind da nur viele Versprechungen gemacht worden.“

Froh über die Unterstützung

Immerhin gibt es schon kleine Gesten der Solidarität: So wird von einem Bauer aus einem anderen Teil Helvetiens berichtet, der seinen Kollegen in Blatten Futter für die evakuierten Tiere liefert.

„Ich bin wirklich froh über die Unterstützung aus dem ganzen Land“, sagt Landwirt Daniel Ritler, der einen zertrümmerten Agrarbetrieb zu beklagen hat. Die Natur machte mehr als drei Jahrzehnte harte Arbeit zunichte. Ritler lebt nun mit anderen Evakuierten im Ambord, einem verwitterten Hotelbau in Wiler.

Laut Gerichten wird „Neu-Blatten“ errichtet

Der Landwirt wartet auf gute Nachrichten. So wie alle aus dem gestorbenen Ort. Wo sind die Pläne für die Zukunft? Seit Tagen machen entlang der Lonza die Gerüchte die Runde, ein „Neu-Blatten“ würde errichtet. Gebaut nach den neusten Öko- und Sicherheitsstandards.

Fest steht: Der Kanton befasst sich mit dem Thema. Eine „Strategiegruppe“ wurde gegründet. Doch wie lange es bis zum ersten Spatenstich dauern wird, wo etwas Neues wachsen könnte, das weiß niemand. Zumal die Dorfältesten reagieren skeptisch. Albert Bellwald sagt: „Auf Schutt kann man nichts Neues bauen.“