Es dröhnt. Die Luft zittert. Eine Masse aus Steinen, Bäumen und Eis donnert hunderte Meter in das malerische Lötschental. Links und rechts der Lawine stehen Berge, trotzig und schneebedeckt. Am Ende verschwindet die niederschießende Naturgewalt hinter Staubfontänen und Wolken.
Am Mittwoch, kurz nach 15.15 Uhr, geschieht es: Große Teile des Birch-Gletschers im Schweizer Kanton Wallis brechen ab, gespickt mit Geröll poltern sie hinunter in Richtung des Ortes Blatten. Das angekündigte „Großereignis“ ist eingetreten und demonstriert drastisch, welche Gefahren in den Höhenlagen lauern: Ein Gletscher, das wissen die Bergler, ist immer in Bewegung.

In Blatten lebten bis vor wenigen Tagen 300 Kinder, Frauen und Männer im Einklang mit der rauen Alpenwelt.
Der wilde Strom aus der Höhe zerstörte fast alle ihrer schmucken steinernen und hölzernen Häuser und Gehöfte, vernichtete Straßen und Wege und ließ sogar die emporragende Kirche verschwinden.
Dorf fast vollständig von Schutt bedeckt
Mitglieder des Walliser Staatsrats zeigten sich erschüttert über die schlimmste Tragödie des Ortes, der Tourismus anlockte und erstmals im Jahr 1433 schriftliche Erwähnung fand. „Es ist eine totale Katastrophe, die weit über das hinausgeht, was die Menschen in der Region dachten“, erklärte Umweltminister Franz Ruppen. Sicherheitsminister Stéphane Ganzer ergänzte: „Das Dorf ist fast vollständig von Schutt bedeckt.“

Bilder der heimgesuchten Siedlung zeigen am Tag danach eine gespenstische graue Geröllschicht, die mit Urkraft sich den Weg gebahnt haben muss und auch den Fluss Lonza nicht verschonte.
Sein Bett füllte sich mit Brocken, Holz und sonstigem Material. Jetzt ist das Gebirgsgewässer verstopft – und ein See breitet sich aus. Die Wucht der Lawine riss auch eine hydrologische Messtation am Fluss hinweg.
Ab 15.20 Uhr am Unglückstag meldete der Empfänger laut Blick.ch keine neuen Daten mehr. Die „Hochwassergefahr“ zwingt nun die Nachbargemeinden Wiler und Kippel zu Teilevakuierungen.
Drohne sucht nach vermisstem Einheimischen
Glücklicherweise hält sich bislang in Blatten der Schaden an Leib und Leben in Grenzen: Nach vorläufigen Erkenntnissen wird nur eine Person vermisst: ein 64-jähriger Einheimischer. Nach ihm wird mit einer Drohne gesucht.
Bereits am Montag voriger Woche (19. Mai) hatten die Behörden „vorsorglich“ die komplette Räumung Blattens angeordnet. Neben den Menschen mussten auch Kühe und weitere Tiere ihre gewohnte Umgebung verlassen. „Wenn das schlimmste Szenario eintrifft, dann sind wir lieber weg“, sagte eine der Evakuierten, Helene Bellwald, dem Sender SRF.

Nach Eintritt des schlimmsten Szenarios jedoch haben Helene und die meisten anderen Dörfler ihr Hab und Gut sowie ihre Heimat verloren. Die Opfer hoffen nun, dass der Staat seine Versprechen nach Hilfe einlöst.
Schweizer Soldaten packen bei Aufräumarbeiten mit an
Kurz nach dem Desaster trat die Schweizer Armee auf den Plan. Ein Erkundungsteam prüft, wie die Soldaten mitanpacken können: So dürften die Pioniere der Truppe den meterhohen Schutt wegräumen und mit schwerem Gerät die Zufahrten freimachen.
Wann und ob Blatten in seiner alten Form aus den Ruinen wiederentstehen wird, bleibt offen. „Wir haben das Dorf verloren, aber nicht das Herz“, sagte Bürgermeister Matthias Bellwald, der um Fassung rang und trotzig einen Neuanfang versprach.

Zuvor hatte fast ganz Helvetien auf das sich anbahnende Unglück im deutschsprachigen Teil des Kantons geschaut, mit Hoffen und Bangen: Rund um das abgesperrte Dorf berichteten Reporterinnen und Reporter in Livetickern von Abplatzungen, geologischen Aktivitäten, instabilen Massen und dem Tempo, mit dem sich die Lawinen unaufhaltsam hinabwälzten.

Zunächst war das „Kleine Nesthorn“ (3342 Meter über dem Meeresspiegel) in Bewegung geraten. Robert Kenner vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos erklärt, „dass ein Berg keine homogene Masse ist, sondern in ihm Schwächezonen existieren“.
Die Erdanziehungskraft wirke, das Gestein ermüde, letztlich könne ein ganzer Hang „versagen“: Genau das passierte wohl über Blatten: Mehrere aufeinanderfolgende Erdrutsche beförderten Millionen Kubikmeter Fels und andere Materialien immer weiter nach unten und landeten teilweise auf dem Dach des Birch-Gletschers.
Der bis dahin höchste Punkte des Kleinen Nesthorns stürzte am Freitag voriger Woche ein. Die herunterfallen Massen übten mit ihrem „enormen Gewicht einen starken Druck auf den Gletscher aus“ und schoben den Eisgiganten in Richtung Tal, erläuterten Spezialisten des Kantons. Bis sich dann der Druck in dem „Großabbruch“ entlud.