In Konstanz-Petershausen tanzt der Grizzlybär. Mit offenem Mund und offenen Augen. Mit spitzen Zähnen und spitzen Krallen. Bis er erschossen wurde, lebte er in den kanadischen Wäldern. Nach seinem Tod ist aber nur sein Fell geblieben, das Laura Grizzlypaws bei ihrem Tanzritual an diesem Nachmittag trägt.
Kinder mit offenen Mündern, Eltern mit Smartphones in der Hand
Die Kanadierin ist unter dem Fell kaum zu erkennen. Den Grizzly-Kopf hat sie wie einen Helm auf ihren Kopf geschnallt. Die Bärentatzen sind an ihre Handgelenke befestigt. Unter dem Fell trägt sie ein rotes Gewand und dazu große, runde Ohrringe. Zuerst wippt sie in der Hocke zu den indigenen Trommelrhythmen und den Gesängen, dreht sich um die eigene Achse.
Dann steht sie auf, reckt die Arme hoch, bewegt die Schultern. Der Grizzly springt und das Fell hüpft auf ihrem Rücken auf und ab. Kinder sitzen mit offenen Mündern in einem Halbkreis um sie herum, Eltern filmen die Zeremonie mit ihren Smartphones.
Zeigen, wie die indigene Kultur wirklich ist
Dass eine kanadische Indigene an den Bodensee kommt, ist eine Seltenheit. Der Grund dafür ist die Indigene Woche des Kinderkulturzentrums Konstanz. In diesem Zeitraum bringt Grizzlypaws (deutsch: „Grizzly-Pfoten“, ins Englische übersetzter Nachname in ihrer Stammessprache, Anm. d. Red.) den Kindern Lieder und Singspiele in der Sprache ihrer Vorfahren bei, den Ureinwohnern Kanadas. Sie erzählt Geschichten ihrer Stammesgemeinschaft und lässt Kinder unterschiedliche Szenen davon nachmalen.
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Sie erklärt den Kindern die Farben auf ihren traditionellen Gewändern. Ihr Ziel: Lehren, wie das Leben und die Kultur von Indigenen in Nordamerika wirklich aussieht – und nicht, wie sie in Kinderbüchern wie Winnetou dargestellt wird.
Bücher wie Winnetou? „Ekelhaft“ und „sehr verstörend“
Ihr Besuch findet zufälligerweise zur gleichen Zeit statt wie die Debatte rund um die Winnetou-Reihe und die zurückgezogenen Kinderbücher des Ravensburger-Verlags.
Zur Darstellung Indigener in westlicher Literatur hat sie eine klare Haltung: „Alles, was Nicht-Indigene über Indigene geschrieben oder überliefert haben, ist respektlos und eine unwürdige Darstellung, wer wir als Indigene sind“, sagt sie dem SÜDKURIER bei dem auf Englisch geführten Gespräch. Es sei „ekelhaft“ und „sehr verstörend“, welches Bild von ihrer Kultur in Europa noch immer vorherrsche.

Von Kindern werde sie oft gefragt, ob sie in einem Tipi lebe. Die Kinder seien selbst nicht Schuld an diesen Fragen, sagt sie. Schuld sei das kulturelle System, das diese Bilder des „wilden Indianers“ reproduziere. „Es ist traurig, dass es kein wirkliches Bewusstsein über die Kultur Indigener gibt.“ Das sei auch der Grund, warum sie nach ersten Besuchen lange nicht nach Europa zurückkehren wollte.
„Das hätten sie gelesen, wenn Sie vor diesem Termin recherchiert hätten!“
Im Gespräch ein paar Tage zuvor trägt Grizzlypaws kein Bärenfell, sondern ein blaues Top und einen bunten Rock mit Sternenmuster. Auf ihren Oberarmen hat sie Tattoos von Bärenspuren und einem Muster, das die Geschichte ihrer Familie darstellen soll. Bei der Unterhaltung redet sie bestimmt, selbstbewusst – und durchaus konfrontativ.
Welche Frage ihr normalerweise als Erstes in Interviews gestellt werde? „Das ist die Frage nach dem Grizzlybär“, entgegnet sie. „Das hätten sie gelesen, wenn Sie vor diesem Termin recherchiert hätten!“, sagt sie dem Autoren dieses Textes.
Grizzly-Tänzerin und Bodybuilderin
Interviews, die mit dieser Frage beginnen, lassen sich im Internet jedoch kaum nachlesen. Stattdessen findet man bei einer Internetrecherche über Laura Grizzlypaws unter anderem heraus, dass sie aus der Nähe von Vancouver kommt, dass sie von der Indigenen-Gemeinschaft der ‚St‚át‚imc‚ abstammt, dass sie sich für mehr indigene Kultur an kanadischen Schulen und Universitäten einsetzt und dass die New York Times eine Videodokumentation über sie gedreht hat.
Des Weiteren findet man auf Instagram heraus, dass sie als Bodybuilderin unter dem Profil „fit_with_grizz“ (deutsch: „Fit mit dem Grizzly“) rund 20.000 Follower hat. Auf diese Tätigkeit angesprochen, sagt sie: „Oh, Sie haben ja wirklich recherchiert!“
„Ich bin der Bär und der Bär ist Wir“
Aber zurück zum Grizzlybären. Dieser sei einst von einem Aufseher in einem Neubaugebiet erschossen worden, als auf einem Feld Kartoffeln essen wollte, erzählt Grizzlypaws.
Das Fell habe zuerst der Häuptling ihrer Gemeinschaft erhalten und später ihr übergeben. „Grizz“, wie sie den Bären nenne, stehe als Symbol ihrer Gemeinschaft. „Ich bin der Bär und der Bär ist Wir“, sagt Grizzlypaws.
Grizzlybären würden als heiliges Tier in ihrer Gemeinschaft verehrt. Jagen, töten oder essen täten sie die Bären nicht. „Wir schützen sie“, erklärt sie. „Wenn wir Grizzlies schützen, schützen wir unsere eigene Identität und unser Land.“
Grizzlypaws: Indianerverkleidung an Fasnacht ist ein Tabu
Als es um Winnetou geht, spricht sie oft über „kulturelle Aneignung“ oder „koloniale Verhältnisse“. Auf dem ersten Blick verwendet sie das übliche Vokabular der sogenannten woken, linken Szene. Doch bei ihr hat es einen tieferen, persönlichen Hintergrund: „Meine Vorfahren wurden getötet und über Jahrzehnte hinweg in Internate gesteckt, wo ihnen verboten wurde, ihre Sprache zu sprechen und ihre Kultur auszuüben“, sagt sie. „Und dann kommt man hierher, wo unsere Kultur derartig verzerrt wird. Das tut weh!“
Dass der Ravensburger-Verlag die Veröffentlichung der Kinderbücher zurückgezogen hat, hält sie für richtig. Sie geht sogar noch weiter: „Niemand hat das Recht Geschichten zu schreiben oder unsere Identität zu definieren, wenn sie nicht einmal indigenen Ursprungs sind. Das ist falsch.“
Das sei so, als ob sie nach Deutschland käme und den Menschen hier vorschreibe, wie sie ihre Kultur leben zu habe. Sich als Indianer an Fasnacht zu verkleiden, sei für sie zudem auch ein Tabu.
Hoffnung macht ihr, „dass es Menschen gibt wie mich!“
In Grizzlypaws Geburtsland Kanada ist das Leben vieler Indigener häufig von Diskriminierung, Ausgrenzung und Unterdrückung geprägt. Sie kämpfen darum, dass ihre Sprachen überleben und anerkannt werden. Dieser Kampf ist aber noch lange nicht zu Ende. Erst kürzlich wurden an einem ehemaligen katholischen Internat Leichen gefunden, wo der Verdacht besteht, dass es sich um indigene Kinder handeln soll. Nach einer Entschuldigung des Papstes bemüht sich die Regierung um Justin Trudeau um Aufklärung und Aufarbeitung.
Was ihr angesichts dieser Lage für Indigene überhaupt Hoffnung mache? „Dass es Menschen gibt wie mich!“, sagt sie, lacht laut und schiebt hinterher: „Dass dort draußen viele Indigene um eine Veränderung kämpfen.“ Es brauche mehr „Verbündete für Indigene“, die selbst nicht indigener Herkunft seien.
Sie hat genug vom „entehrendem Mist“
Das sei besser, als die ewig falschen Märchengeschichten zu erzählen und solch einen „entehrenden Mist“ zu ertragen. Gemeint sind damit auch die Winnetou-Werke. Um einen echten Wandel zu erreichen, müssten Indigene mehr Bildungsarbeit liefern und sich Nicht-Indigene dafür öffnen, ihre Stereotype zu begraben, sagt sie.
Sie sei dankbar, dass man sie nach Konstanz zur Indigenen Woche des Kinder-Kultur-Zentrums eingeladen habe, um Kindern von ihrer Kultur zu erzählen. „Das ist ein guter und wichtiger Schritt!“