Der Ravensburger Verlag hat zwei Kinderbücher mit dem Titel „Der junge Häuptling Winnetou“ vom Markt genommen, weil sie die „Gefühle anderer verletzt“ haben sollen. Jetzt tobt eine Meinungsschlacht um Winnetou, Karl May und ob diese Art Literatur überhaupt noch zeitgemäß sei. Ist sie es?
Tyrone White, ein in Deutschland lebender Indigener, erklärt in den ARD-“Tagesthemen“, die gezeigten Figuren hätten mit den tatsächlichen indigenen Ureinwohnern nichts gemein, die Realität werde „verschleiert“. Ein echter Old Shatterhand hätte Winnetou getötet und Kopfgeld kassiert statt mit ihm Blutsbrüderschaft zu schließen.

Wenn ich versuche, mich in Herrn Whites Lage zu versetzen, erscheint mir seine Kritik plausibel. Einem Nachkommen von Menschen, die verfolgt, enteignet und für Jahrzehnte in Reservate gesperrt wurden, muss es wie Hohn erscheinen, wenn Kinderbücher die rührselige Geschichte vom indigenen Häuptling und seinem weißen Freund erzählen. Die Frage ist, ob diese Lesart die einzig mögliche und legitime ist.
Das Verschleiern von Realität gehört zum Wesenskern jeder Literatur, eine diskriminierende Absicht liegt dabei selten zugrunde. Im Fall der Lichtgestalt Winnetou ist sogar das Gegenteil der Fall.
Genau darin liegt der Sinn der Sache: Im Fantasieraum der Poesie wird ein anderes, fiktives Amerika denkbar. Eines, in dem Menschen Rassenhass überwinden, Diskriminierte zu Helden aufsteigen und die edle Tat über das furchtbare Verbrechen siegt. Was muss gegeben sein, damit diese offenkundig antirassistische Intention gleichwohl rassistisch wirkt?
Zum Beispiel ein Kontext, der die beste Absicht in ein ironisches Licht rückt. In vielen US-amerikanischen Indianerreservaten dominieren
Denken wir uns Karl Mays Westernkitsch vor diesem Hintergrund, etwa als Filmvorführung im örtlichen Kino: Ja, da wird die Sache problematisch. Herr White hat diesen Kontrast vor Augen, ihm muss die Indianer-Verherrlichung des deutschen Abenteuerautors unerträglich sein.
Märchen von einer besseren Welt
Hierzulande jedoch verstehen 99 Prozent aller Winnetou-Leser – ob alt oder jung – diese Geschichte
Nicht im Traum kämen sie auf die Idee, die Indianerverfolgung gutzuheißen. Im Gegenteil: Keine andere Bevölkerungsgruppe genießt bei uns so große Sympathien, weder die Aborigines in Australien noch die Herero in Namibia, an denen
Die Wahrheit ist: Garantiert gerechte, rundum schmerz- und diskriminierungsfreie Literatur existiert nur in ideologischen Vorstellungswelten. Seit es Bücher gibt, fühlen sich Menschen verletzt – oft zu Recht.
Dagegen helfen nur drei Maßnahmen.
Erstens: Niemand ist gezwungen, ein Buch zu lesen.
Zweitens: Wer es dennoch tut, hat jedes Recht, es öffentlich in aller Härte zu kritisieren.
Zunehmend in Mode kommt die schlechteste Möglichkeit von allen, Variante Nummer drei: Bei Kritik Buch vom Markt nehmen, einstampfen, Abbitte leisten. Mag sein, dass dadurch die akute Pein schwindet. Doch Achtung: Der Folgeschmerz wirkt umso stärker.