„Wir haben alle unsere Tiefpunkte im Leben. Jan Ullrich hatte sie aber in aller Öffentlichkeit“, sagt Sir Bradley Wiggins. Der britische Olympiasieger und Tour-de-France-Sieger von 2012 hatte gerade erst selbst öffentlich gemacht, jahrelang kokainsüchtig gewesen zu sein. Nun steht er in Radklamotten auf einer Bühne im Kurpark von Bad Dürrheim, wo das erste „Jan Ullrich Cycling Festival“ ausgetragen wird – mit ein paar Kilo mehr auf den Hüften als früher, wie er gesteht.

Das Star-Aufgebot ist groß: Mit Lance Armstrong, dem siebenmaligen Tour-Sieger, dem wegen Dopings alle Titel aberkannt wurden, ist „Ulles“ sportlicher Dauerrivale dabei, die beiden verbindet aber seit Jahren eine enge Freundschaft.

„Lance hat einen großen Anteil daran, dass Jan wieder der ist, der er sein möchte“, sagt Moderator Michael Pfeffer. Ullrich, soll das heißen, ist nach Alkohol- und Drogeneskapaden zurück in der Spur – und möchte nun etwas für den deutschen Radsport tun.

Viele Promis zu Gast

Neben dem US-Amerikaner Armstrong sind auch deutsche Sportgrößen dabei, etwa Ullrichs früherer Edelhelfer Andreas Klöden, 2004 selbst Zweiter der Frankreichrundfahrt, oder der vormalige Tour-Etappensieger Simon Geschke, der erst im vergangenen Herbst seine Karriere beendete. Auch der frühere VfB-Stuttgart-Torwart Timo Hildebrandt ist mit von der Partie.

Auch die Politik war zu Gast, fuhr mit dem E-Bike auf dem abgesperrten Rundkurs mit: Eingerahmt vom Moderatorenduo Michael Pfeffer und ...
Auch die Politik war zu Gast, fuhr mit dem E-Bike auf dem abgesperrten Rundkurs mit: Eingerahmt vom Moderatorenduo Michael Pfeffer und Claudia Neumann Bürgermeister Jonathan Berggötz, Justizministerin Marion Gentges, Landrat Sven Hinterseh (alle CDU) und Kur-und Bäder-Geschäftsführer Markus Spettel (vl). | Bild: Jann-Luca Künßberg

Armstrong berichtet auf der Bühne von einer Geschichte, die bislang noch nicht bekannt war: Bei seinem letzten Tour-Sieg im Jahr 2005 habe er den zweitplatzierten Jan Ullrich gefragt, ob er bei seiner Siegesfeier eine Rede halten könnte – der habe gleich eingewilligt. „Hätte Jan die Tour gewonnen und da wären 800 deutsche Fans gewesen, ich hätte wohl keine Rede gehalten“, erzählt Armstrong, wie Wiggins auch natürlich auf englisch.

Ullrich, nach einem Rad-Unfall wegen eines gebrochenen Schlüsselbeins mit dem linken Arm in einer Schlinge, erwidert: „Ich musste da einfach hin, das gebot der Respekt.“

Bad Dürrheim als Radsport-Mekka?

Bei dieser Veranstaltung in Bad Dürrheim verbinden sich zwei Anliegen. Jan Ullrich wollte sich vor allem bei seinen Fans bedanken, wie er im Vorfeld sagte. Wie viele davon er überhaupt noch hat, das habe Ullrich im Vorfeld ziemlich nervös gemacht, berichtet später der Ausrichter des Events, Rik Sauser. „Das jetzt so viele Leute hier sind, das tut ihm richtig gut.“

Sauser ist als Organisator von Radrennen eine Größe in dem Sport, hat in den vergangenen zwei Jahren die Deutschen Meisterschaften nach Bad Dürrheim geholt. Und, das gestand er kürzlich: Sein Traum ist es, mal eine Weltmeisterschaft in den Schwarzwald zu holen.

Ganz einfach dürfte das allerdings nicht werden. Radrennen sind traditionell für jedermann umsonst zugänglich, Tickets werden nicht verkauft. Bei mehrtägigen Großveranstaltungen kommen so schnell Millionensummen zusammen, die die öffentliche Hand zuschießen muss. Bei der Rad-WM in Zürich waren das im vergangenen Jahr rund 20 Millionen Franken. Das weiß natürlich auch Sauser.

Die Ex-Profis können sich eine WM hier vorstellen

Für sein Anliegen sind die prominenten Gäste des Festivals dennoch gute Botschafter – denn, das wird hier schnell klar: Die anwesenden Fans sind überaus nachsichtig mit den einst gefallenen Stars. „Ich finde es toll. Gigantisch, was die Jungs hinter ich haben“, sagt eine Frau aus dem Publikum. „Man muss solche Berge erstmal hochfahren, oder“, fragt sie – und es wird nicht ganz klar, ob sie die steilen Alpenpässe oder die privaten Rückschläge meint. Wahrscheinlich beides.

Jan Ullrich mit Arm in der Schlinge – vom Autogrammegeben hält ihn das aber nicht ab.
Jan Ullrich mit Arm in der Schlinge – vom Autogrammegeben hält ihn das aber nicht ab. | Bild: Jann-Luca Künßberg

Die Ex-Profis können sich eine WM in Dürrheim jedenfalls durchaus vorstellen: „Definitiv“, sagt der etwas wortkarge Wiggins im Gespräch mit dem SÜDKURIER, und Simon Geschke, der im Schwarzwald beheimatet ist: „Warum nicht? Die letzte WM war in Zürich, das war ja fast wie eine Heim-WM. Stuttgart 2008 war auch cool. Klar ist: In Europa kommen immer die meisten Fans.“ Lance Armstrong war nicht mehr zu sprechen, Gerüchten zufolge war er mit einem Defekt auf der Strecke steckengeblieben.

Denn es wurde nicht nur geredet bei diesem Radsport-Fest: Auf einem anspruchsvollen Kurs über 29,7 Kilometer konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf abgesperrter Straße bis zu vier Runden mit ihren Idolen drehen.

Ganz vorne wurde aber mit ordentlich Dampf gefahren. Eine Spitzengruppe mit etwa 20 Fahrern und einer Fahrerin setzte sich schnell ab und fuhr in Wettkampf-Tempo über teils bucklige Feldwege und in rasante Abfahrten. Die Ex-Profis sind vorne nicht mit dabei, nehmen sich Zeit für Fotos und Gespräche mit ihren Fans.

Der verletzte Jan Ullrich gibt des Startschuss und fährt zwei Runden im Führungsauto mit. Er wünscht sich eine Wiederholung im kommenden Jahr: „Damit wir mal zusammen eine Runde auf dem Rad drehen können“, sagt er zum Abschied seinen Fans. Nach allseitigem Bekunden der Verantwortlichen stehen die Chancen dafür nicht schlecht.

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Neben den Meisterschaften hatte in Bad Dürrheim bereits im vergangenen Jahr ein Jan-Ullrich-Museum eröffnet, das die wichtigsten Artefakte aus dessen Laufbahn ausstellt: Fahrräder, Trikots, Trophäen. Entwickelt sich Bad Dürrheim also zu so etwas wie einem deutschen Radsport-Mekka? Mit Jan Ullrich als Zugpferd – kann das sein?

Comeback-Geschichten sind beliebt, das zeigt dieses Wochenende. Die Fans hier freuen sich alle über ihren „Ulle“. Es ist allzu menschlich, was hier passiert, so sieht es das Publikum: vergeben und vergessen. Die Veranstaltung ist professionell organisiert, nicht zuletzt auch inszeniert.

Jan Ullrich muss das eigene Festival kurz vor dem Ende frühzeitig verlassen, die frische Operation nach seinem Sturz macht ihm zu schaffen. Aber wer weiß: Vielleicht darf er irgendwann auch den Startschuss für ein Weltmeisterschaftsrennen geben – wieder in Bad Dürrheim.