Staufen 2017, Lügde 2018, Bergisch Gladbach 2019 und Münster 2020 – ganze Netzwerke an systematischem Kindesmissbrauch mit Dutzenden Opfern haben die deutschen Behörden zuletzt aufgedeckt und viele Menschen erschaudern lassen.
Die Handlungsstränge glichen sich dabei in einem erschreckenden Ausmaß: Väter, Stiefväter, Verwandte und „Freunde“ vergewaltigten und quälten Kinder, Kleinkinder, gar Säuglinge – zum Teil unter Mithilfe oder Billigung von Müttern und Ehefrauen – und das an harmlos erscheinenden Orten, darunter eine Gartenlaube, ein Campingplatz und eine Wohnsiedlung aus Einfamilienhäusern. Diese Männer filmten ihre menschenverachtenden Taten und verkauften die Videos im Darknet, wo sie erschreckenderweise auf große Nachfrage stießen.
Verbrechen statt Vergehen
Mit jedem neuen großen Missbrauchsfall geriet Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) stärker unter Druck und reagierte schließlich mit einer Reihe von Gesetzesänderungen, die nun am 1. Juli – fast unbemerkt von der Öffentlichkeit – in Kraft getreten sind.
Die wichtigste: Wer Kinder sexuell misshandelt, Videos oder Fotos davon macht, solche Aufnahmen verbreitet oder auch nur besitzt, macht sich nun eines Verbrechens schuldig, das mindestens mit zwölf Monaten und bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe bestraft wird. Bisher handelte es sich in den genannten Fällen lediglich um „Vergehen“, die auch mit geringen Freiheits- oder Geldstrafen geahndet werden konnten.

Konträre Täterkreise
„Das ist eine gewaltige Strafverschärfung“, sagt Alexandra Bouba. Die Konstanzer Staatsanwältin ist fast täglich mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder beziehungsweise Jugend- und Kinderpornografie konfrontiert. Sie findet, die Zielrichtung der neuen Strafverschärfung sei „durchaus ehrenwert“.

Jedoch fehle ihr bei dieser Gesetzesänderung der Raum, weiterhin zwischen den einzelnen Tätergruppen unterscheiden zu können, mit wem man es als Ankläger zu tun hat: Zum einen mit Pädophilen, die bewusst Kinderpornografie produzieren oder sammeln, um sich sexuell zu erregen.
Oder auf der anderen Seite mit Kindern und Jugendlichen, die aus leichtfertiger Neugier von sich oder ihrem Gegenüber Nacktbilder machen oder andere im Internet kursierende kinder- und jugendpornografische Inhalte hin- und herreichen und sich dabei gar nicht viele Gedanken machen, ob das strafbar ist – zwei völlig unterschiedliche Täterkreise.
14-Jähriger kann sich schnell strafbar machen
Zwar bleibt es wie bisher straffrei, jugendpornografische Fotos und Videos innerhalb einer persönlichen Beziehung zum Eigengebrauch herzustellen und zu besitzen. Diese Ausnahme gilt jedoch nicht bei Kinderpornografie. Das heißt konkret, dass sich nun bereits ein 14-Jähriger eines Verbrechens schuldig macht, wenn er von seiner 13-jährigen Freundin ein Nacktfoto am Handy speichert, das sie selbst beispielsweise in aufreizend geschlechtsbetonter Pose oder bei sexuellen Handlungen von sich gemacht hat.
„Das bisherige Gesetz hat uns den Rahmen gegeben, beide Täterkreise angemessen zu behandeln. Mit dem neuen Gesetz können wir auch bei ganz geringfügigen Fällen im Erwachsenenstrafrecht keine Verfahrenseinstellungen machen, sondern müssen diese als Verbrechen grundsätzlich beim Schöffengericht anklagen. Für Jugendliche bleiben noch andere Sanktionsmöglichkeiten, darunter die Ermahnung oder Auflagen durch das Jugendamt“, sagt Bouba. Sie rechnet mit einer erheblichen Arbeitszunahme bei Gerichten und Staatsanwaltschaften, von denen manche ohnehin bereits überlastet sind und über Personalknappheit klagen.
„Nur die Spitze des Eisbergs“
Dabei ist die Zahl an Gerichtsverfahren wegen des Erwerbs, des Besitzes und der Verbreitung von kinder- oder jugendpornografischen Bildern oder Videos bereits in den vergangenen Jahren im Zuständigkeitsgebiet der Staatsanwaltschaft Konstanz, das von Überlingen über Villingen-Schwenningen bis Donaueschingen reicht, regelrecht explodiert.
Gab es in der Region im Jahr 2017 circa 60 Verfahren, verzehnfachte sich diese Zahl bis 2020 nahezu auf 590. Allein bis Juni 2021 wurden bereits etwa 500 Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Konstanz wegen des Erwerbs, des Besitzes und der Verbreitung von kinder- oder jugendpornografischen Bildern oder Videos eingeleitet.
Rechnet man diesen Zwischenstand auf das ganze Jahr hoch, könnte es Ende 2021 erneut eine Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr geben. „Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs, wenn man sich zum Beispiel Chatgruppen auf Schulhöfen anguckt“, sagt Staatsanwältin Bouba.
Drittklässler mit Handy
Sie führt den enormen Anstieg an Verfahren unter anderem auch darauf zurück, dass Kinder immer früher ein Smartphone besitzen. „Wenn Eltern Dritt- oder Viertklässlern ein Handy geben, kommt es immer wieder vor, dass die Kinder von sich und ihren Genitalien Bilder machen und diese in die sozialen Medien hochladen. Den jungen Leuten ist nicht bewusst, was da über ihnen schwebt“, so die Juristin.

Bravo, Dr. Sommer und Playboy
Früher haben ganze Generationen Bravo gelesen und sich von „Dr. Sommer“ aufklären lassen. Zeitschriften wie Praline oder Playboy wurden gekauft und mit Freunden angeguckt und ausgetauscht. „Das waren damals die verfügbaren Medien. Dabei die Gefühle für das andere oder eigene Geschlecht zu entdecken, ist im Prinzip ein ganz normaler Entwicklungsschritt in der Pubertät“, sagt Bouba.

Doch heute würde die sexuelle Aufklärung vieler Kinder und Jugendlicher im Internet stattfinden. „Das ist ihr Alltagsmedium, in dem sie in jedem Lebensbereich unterwegs sind, auch in der Sexualität.“ Jeder, der heute ein „X“ schreiben könne, habe mit einem Klick Zugang zu Pornografie. Kinder und Jugendliche tauschen sich dabei auf Plattformen aus, „von denen viele Erwachsene gar nicht die Namen kennen“, sagt die Konstanzer Staatsanwältin.
Nacktbilder auf Snapchat
Manche Kinder und Jugendliche würden von sich selbst pornografische Bilder machen und sie auf Snapchat hochladen in der Annahme, dass das Bild nach kurzem Aufscheinen wieder gelöscht und damit gänzlich aus der Welt ist. „Die, die sich nicht so gut auskennen, wähnen sich in Sicherheit. Tatsächlich kann aber jeder Nutzer auch Snapchat-Bilder per Screenshot speichern, Videos per Screenrecorder aufzeichnen und dann weiterreichen. Ich hatte schon Verfahren, in denen Kinder im Alter von sieben oder acht Jahren bereitwillig Nacktfotos von sich selbst herstellten. Einmal ins Netz gestellt, kann man diese nie wieder einfangen“, sagt Bouba.

Häufig würden Kinder und Jugendliche pornografische Bilder von sich bis hin zum Masturbationsvideo innerhalb einer Beziehung oder Freundschaft teilen. In anderen Fällen, um zum Beispiel auf sich aufmerksam zu machen. „Das ist ein Phänomen unserer Zeit, was die Selbstdarstellung betrifft. Das kennt ja keine Grenzen bis hin zum Selfie auf der Klippe und dem letzten Schritt rückwärts in den Tod.“
Depressionen bis Suizidgedanken
Wenn dann die Beziehung oder Freundschaft in die Brüche geht, finden diese Fotos und Videos oft den Weg nach draußen. „Es gab Fälle, in denen Familien in eine andere Stadt umgezogen sind und an der neuen Schule trotzdem schon wieder die selben Bilder kursiert sind, weil die Welt in Zeiten des Internets klein geworden ist“, sagt die Staatsanwältin.

Für schwerwiegende psychische Folgen reicht manchmal auch schon allein die Drohung, höchstpersönliche Aufnahmen des oder der ehemals Liebsten zu veröffentlichten. „Wenn du mir nicht mehr schickst, dann veröffentliche ich alles auf Instagram, so die Drohung. Dann kann es bei den Betroffenen zu Depressionen, zur Selbstverletzung, etwa durch Ritzen, oder zu suizidalen Gedanken kommen“, sagt Bouba.
„Jede Gesellschaftsschicht betroffen“
Betroffene Eltern würden oft aus allen Wolken fallen, wenn sie erfahren, was ihre Kinder im Netz so tun, was sie fotografieren und an wen sie es schicken. Vielen falle es schwer, sich vorzustellen, dass ihr Kind mit Pornografie umgehe. „Das ist ein Phänomen, das geht durch jede Gesellschaftsschicht, völlig losgelöst vom sozialen Stand oder der Bildung der Eltern“, sagt die Konstanzerin. Viel spiele sich auch in großen überregionalen WhatsApp-Gruppen ab, wo man sich überhaupt nicht kenne und einen unbedarften Austausch pflege.
Bouba rät Müttern und Vätern dazu, früh genug darauf zu achten, was Kinder mit ihrem Handy tun und ausprobieren. „Viele Eltern tendieren dazu, ihre Kinder erst viel zu spät als sexuelle Wesen zu verstehen und kommen daher gar nicht auf die Idee, wie früh sich manche Kinder schon in diesem Bereich in sozialen Medien bewegen“, sagt die Juristin.
„Die Kuh vom Eis bekommen“
Auch wenn Kinder oder Jugendliche zu viel von sich preisgegeben und wirklich Mist gebaut haben, sollten Eltern mit offenen Armen als vertrauensvoller Partner agieren, ihnen immer wieder ein Angebot machen, darüber zu sprechen und zusammen eine Lösung zu finden, „wie sie die Kuh vom Eis bekommen“, wie Bouba sagt.
Eltern sollten ihren Kindern einimpfen: „Was du einmal ins Netz gestellt hat, kannst du nicht mehr zurückholen. Selbst WhatsApp-Statusbilder oder Snapchat-Fotos kann sich ein anderer als Screenshot sichern und für seine Zwecke weiterverwenden.“ Am besten sei es daher, gar keine höchstpersönlichen Bilder oder Videos ins Internet zu laden, so die Staatsanwältin.

Ihr Wunsch ist es, dass nicht nur Schüler, sondern auch Eltern intensiver aufgeklärt werden über das Problem kinder- und jugendpornografischer Bilder und Videos am Schulhof und in privaten wie überregionalen Chatgruppen, beispielsweise im Rahmen von schulischen Elternabenden und mittels Informationsbroschüren in verschiedenen Sprachen.
Bouba: „Ab dem Moment, in dem Kinder ein Smartphone zur Verfügung haben, sollten Eltern auf sie entsprechend einwirken, wovon sie besser die Finger lassen sollten. Das könnte helfen, dieses Phänomen einigermaßen in den Griff zu bekommen.“