Von einer Druckerei in eine Kita wechseln? Für Sebastian Kunze ist das „wie ein Sechser im Lotto“. Mit 42 Jahren fängt der Stuttgarter beruflich nochmal ganz von vorne an und sattelt auf die Betreuung kleiner Kinder um. Dank des „Direkteinstiegs Kita“, einer verkürzten pädagogischen Ausbildung für Quereinsteiger, kann er sich das auch als Vater von zwei Kindern leisten.

Denn angesichts des riesigen Mangels an Fachpersonal in den Kindertageseinrichtungen lassen es sich die Träger und die Bundesagentur für Arbeit (BA) einiges kosten, neue Arbeitskräfte für Kitas zu gewinnen: Für die zweijährige Ausbildung ist eine monatliche Vergütung von bis zu 2.968 Euro möglich. Der Andrang ist so groß, dass das vom Kultusministerium und der BA gemeinsam entwickelte Modell nun ausgebaut wird.

Vater-Dasein ohne Schichtdienste

20 Jahre lang arbeitete Kunze nach Abi und Ausbildung als Druck- und Medientechniker in einem industriell geprägten Betrieb. Weil die Zukunftsaussichten in der Branche eher trostlos sind und er als Vater nicht mehr Schichtdienste schieben wollte, schrieb er im Mai 2023 seine Kündigung. Vom „Direkteinstieg Kita“, bundesweit einmalig in Baden-Württemberg, hat er dann zufällig über einen Flyer der Arbeitsagentur erfahren und seinen Jobvermittler darauf angesprochen.

Dass Kunze alle Voraussetzungen erfüllte und letztlich ausgerechnet in der „Vellmenkrippe“ in Stuttgart einen Ausbildungsplatz bekam, war ein Glücksfall. Denn dort werden auch seine eigenen Kinder betreut. Nicht von ihm – „das wäre unprofessionell“, betont Kunze. Aber die Wege können Vater, Sohn und Tochter immer wieder gemeinsam gehen.

In zwei Jahren zur vollwertigen Ausbildung

Die gute Bezahlung der Ausbildung ist das eine. „Für mich war der noch größere Anreiz, nach zwei Jahren einen vollwertigen Abschluss zu haben“, sagt Kunze. Er strebt an, nächstes Jahr die Erzieherprüfung abzulegen – eine von drei Möglichkeiten im neuen Ausbildungsgang.

Gestartet ist der „Direkteinstieg Kita“ im Februar 2023 zunächst als Pilotversuch an der Helen-Keller-Schule in Weinheim. Im gerade ablaufenden Schuljahr 2023/2024 sind bereits 24 berufliche Schulen in ganz Baden-Württemberg mit insgesamt rund 620 Auszubildenden beteiligt. Das Kultusministerium rechnet für das neue Schuljahr mit landesweit 48 Schulen, die den „Direkteinstieg Kita“ anbieten – eine Verdoppelung der Standorte, und damit wohl auch der Teilnehmerzahl.

„Riesiger Andrang“ der Quereinsteiger

Nach dem ersten Jahr, davon zwei bis drei Tage Unterricht pro Woche und ansonsten Praxis in einer Kita, erhalten die Teilnehmenden als Beifang schon mal ein Zertifikat als Schulkindbetreuer. Nach zwei Jahren machen sie die Abschlussprüfung für den Beruf „Sozialpädagogische Assistenz“. Wer es sich zutraut, kann zusätzlich auch noch die Prüfung zur Erzieherin oder zum Erzieher ablegen, ebenfalls nach zwei Jahren. Normalerweise dauert die Erzieherausbildung mindestens drei Jahre.

Die Nachfrage nach der verkürzten Ausbildung ist groß, auch wenn die landesweite Zahl der neuen Quereinsteiger zum September derzeit noch nicht feststeht. Franz Huberth, Leiter der Deutschen Angestellten Akademie (DAA) in Stuttgart, spricht von einem „riesigen Andrang“. „Die neue Klasse ist schon wieder voll“, sagt er auf Anfrage, bei 28 Köpfen liegt die Klassenstärke. „Und wir haben noch 60 Namen auf der Warteliste stehen.“

Deren Chancen sind allerdings winzig. Im aktuellen Jahrgang gibt es Huberth zufolge keinen einzigen Ausbildungsabbruch. „Die Leute sind alle supermotiviert, auch weil sie wissen, dass sie hinterher einen sicheren Arbeitsplatz haben“. Das höre er auch aus vielen anderen beruflichen Schulen.

Einziger Mann in der Klasse

Auch Kunze besucht die DAA – als einziger Mann in seiner Klasse. Das Feld ist bunt gemischt: Dem Schulleiter zufolge reicht das Alter von Ende 20 bis Mitte 50, eine frühere Gärtnerin ist dabei, eine Friseurin, eine Einzelhandelskauffrau und sogar eine Lehrerin mit zweitem Staatsexamen. Diese habe immer nur befristete Jobs als Vertretungslehrkraft bekommen, in einer Kita dürfte sie ohne Zusatzausbildung nur als „Hilfskraft“ arbeiten.

„Die Binnendifferenzierung ist extrem“, betont Huberth mit Blick auf das unterschiedliche Bildungsniveau. Viele hätten seit Jahrzehnten keine Schulbank mehr gedrückt. „Aber die Leute helfen sich gegenseitig, das ist schon eine tolle Sache.“

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Nimmt die Qualität an den Kitas ab?

Unumstritten ist der Quereinstieg in die Kitas allerdings nicht ganz. Bildungsforscher fürchten um die hohen Qualitätsstandards in der Kinderbetreuung. Auch auf gewerkschaftlicher Ebene gab es zunächst Diskussionen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Baden-Württemberg hat den „Direkteinstieg Kita“ aber letztlich aufgrund des großen Personal-Mangels und der zunehmenden Nachfrage der Eltern nach Betreuungsplätzen trotz ihrer Vorbehalte befürwortet.

Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von Ende 2023 liegt die Lücke in Baden-Württemberg bei knapp 15.000 Kita-Fachkräften allein bis 2025.

Das Interesse kam mit der Vaterschaft

Volker Schebesta, Staatssekretär im Kultusministerium, erklärte auf Anfrage, der Direkteinstieg sei „der richtige Schritt, um berufserfahrene Personen für das Feld der Bildung und Betreuung in Kindertageseinrichtungen zu gewinnen.“ Sebastian Kunze ist diesen Schritt gegangen, übrigens nicht als einzige Mann. Im aktuellen Ausbildungsgang befinden sich nach BA-Angaben immerhin 39 Männer.

Kunze wäre in jungen Jahren niemals auf die Idee gekommen, in einer Kita zu arbeiten. Das Interesse an Erziehungsthemen und Pädagogik kam bei ihm erst mit der Vaterschaft. Jetzt freut er sich auf sein neues Berufsleben. Seine Chefin hat jedenfalls bereits angedeutet, dass er mit einer Übernahme rechnen kann.