Mehr als 300 Tonnen Kokain: Mit dieser Menge an beschlagnahmten Rauschgift rechnet die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht bis Ende dieses Jahres in Europa. 1,5 Tonnen Kokain soll eine internationale Drogenbande bewegt haben, die sich monatelang in einem Prozess in Konstanz verantworten musste und deren sechs Mitglieder nun alle zusammen mehr als 40 Jahre Freiheitsstrafen erhielten.
Aber wie gelangt so viel von dem weißen Pulver über den Hegau in die Schweiz? Ein vom Bandenkopf zum Kronzeugen mutierter Drogenhändler sowie der Chef der verdeckten Ermittler im Polizeipräsidium Konstanz lieferten bei dem außergewöhnlichen Gerichtsverfahren seltene Einblicke.
Lauschangriff auf weißen Hummer
Demnach kamen die Ermittler der aufgeflogenen Gruppierung über eine Vertrauensperson auf die Spur. Diese meldete der Kriminalpolizei, dass der niederländische Staatsbürger Raymond C. aus Singen schon seit Jahren mit Kokain im Kilobereich dealen würde.
Nachdem ein Konstanzer Richter umfangreiche Überwachungsmaßnahmen genehmigt hatte, hörten die Ermittler bei jedem Telefonat und bei jedem Gespräch im Wagen von C. – ein weißer Hummer – mit und erfuhren so von internen Abläufen und weiteren Komplizen. Später wurde auch die Kantonspolizei Zürich eingebunden, die ebenso Abhöraktionen gegen Mitglieder der Gruppierung startete.
Zunächst hatte der gebürtige Dominikaner C. extra eine Import-Firma für den angeblichen Handel mit Kunststoffgranulat gegründet. „Bei dem Warenwert und den Verschiffungskosten für Container war klar, dass das nicht rentabel sein kann“, sagte der Kriminalhauptkommissar als Zeuge aus. In Wahrheit habe die Tarnfirma nur einem Zweck gedient: kiloweise Kokain aus Lateinamerika nach Europa schmuggeln.
Leerer Container löst Todesangst aus
Dreimal gelang dies. Ein Logistikunternehmen lieferte die Frachtcontainer mit jeweils 15 Kilo Kokain – eingeschweißt im Metallrahmen – zu einer Lagerhalle in Gottmadingen. „Obwohl die Container geröntgt wurden, stufte sie der Hamburger Zoll als nicht verdächtig ein“, erklärte der Chefermittler. Der Lohn für C. soll pro Lieferung 40.000 bis 50.000 Euro betragen haben.

Erst als die Behörden aus den Abhöraktionen vom Drogen-Versteck erfuhren, konnten sie eine vierte Sendung von 15 Kilo Kokain im Hamburger Hafen sicherstellen. Den Container sandten sie ohne das Rauschgift weiter.
Der Verlust der wertvollen Ware stürzte den Organisator in Panik und Todesängste: „Er hatte Angst um sein Leben, weil die Auftraggeber davon ausgehen könnten, dass er das Kokain unterschlagen habe“, sagte der Kommissar. Das Gericht verurteilte den 32-jährige C. zu neun Jahren Gefängnis.
Kronzeuge nennt Hintermänner
Todesängste hat bis heute auch ein weiteres führendes Mitglied der Gruppierung: Edward N., der unmittelbar nach seiner Verhaftung zum Kronzeugen avancierte. „Es kann jederzeit ein Lastenzug kommen – er rechnet damit, dass er mit seinem Leben bezahlen muss, und hat große Angst um seine Familie“, sagte der Strafverteidiger Gerhard Zahner vor Gericht über seinen 52-jährigen Mandanten.
Schließlich vergesse „die Szene“ nicht, ein Leben in einem lateinamerikanischen Land birge ein hohes Risiko.

N., der eine Zeit lang mit seiner ebenfalls angeklagten Schweizer Lebensgefährtin in Zürich lebte, kooperierte vollumfänglich mit den Behörden und nannte auch die Namen einiger Hintermänner aus Lateinamerika.
Demnach stünde in der Hierarchie dieses Drogenkartells ein gewisser J., auf Spanisch „Jota“, ganz oben. Dahinter folgt ein Mann namens „Ruben Hidalgo“, ansässig in der Dominikanischen Republik. Dieser bestellt bei einem „Barba“ in Kolumbien und Kontaktpersonen in weiteren südamerikanischen Erzeugerländern Kokain, darunter in Ecuador und Peru.
Die Verstecke der Drogenhändler
„Im Erzeugerland Ecuador kostet ein Kilo Kokain 200 US-Dollar, in der Dominikanischen Republik dann bereits 2000 US-Dollar“, erklärt der Kriminalhauptkommissar vor Gericht und nennt auf Nachfrage die Schweizer Bundespolizei als Quelle. Diese bestätigt die grundsätzlichen Gegebenheiten, nennt aber keine Zahlen.
Mit dem Risiko steige laut dem Kriminalisten auch der Preis. In Deutschland werde ein Kilo Kokain für 32.000 bis 42.000 Euro verkauft. In der Schweiz seien auch Preise von 60.000 Franken pro Kilo möglich, berichtete der Ermittler.
Auch bei den Verstecken scheint die kriminelle Kreativität grenzenlos zu sein, wie abgehörte Gespräche verraten: Kokain sei in Drei-Kilo-Tranchen in Kartondeckel von Bananenkisten eingearbeitet sowie in Hohlräumen, extra eingeschweißten Rahmen und doppelten Böden in Containern versteckt worden.
In einem Fall bestellte die Gruppierung Souvenirs aus Mexiko per Fedex-Luftfracht: In einer Seitenwand der Karton-Verpackung waren 500 Gramm Kokain versteckt, wie sich am Flughafen Köln herausstellte.
Schmuggelfahrzeug mit Geheimfach
Doch das Gros an Kokain kommt in Kühlcontainern per Frachtschiff – meist versteckt zwischen Obst – in den europäischen Großhäfen Antwerpen, Rotterdam, Hamburg sowie in Bremerhaven an. Von dort transportieren Drogenkuriere die Ware in Autos und Lastwagen in Richtung Süden.
Bei der aufgeflogenen Gruppierung fiel diese Rolle unter anderem einem obdachlosen Schweizer zu. Klaus F. lebte in einer Hütte auf einem Campingplatz im Kanton St. Gallen und hatte den Auftrag, Kokain aus Holland nach Süddeutschland und in die Schweiz zu transportieren.
Dafür stellte die Gruppierung dem „Alten“, wie sie den 56-Jährigen abschätzig nannte, einen eigens umgebauten Mercedes als Schmuggelfahrzeug zur Verfügung. Dieses verfügte in einem Hohlraum unterhalb des Kofferraumbodens über ein mit einem Schraubschlüssel verschließbares Geheimfach.
An Staatsgrenzen agierte die Gruppierung auch mit Vorausfahrern, die den nachkommenden Drogenkurier vor etwaigen Polizeikontrollen an der Grenze und im Hinterland warnen sollten.
Kurier-Lohn: 2000 Euro und fünf Gramm Koks
Im Oktober 2021 sollte F. wieder mal vier Pakete mit rund 3,7 Kilo Kokain aus Holland abholen und ins etwa 700 Kilometer entfernte Gottmadingen fahren. Sein versprochener Lohn: 2000 Euro und fünf Gramm für den Eigenkonsum.
Doch Behörden wussten durch die Abhöraktionen Bescheid und schlugen zu: Ein Krefelder Gericht verurteilte F. wegen Drogenhandels zu vier Jahren und zehn Monaten Gefängnis. In Konstanz erhielt der 56-Jährige eine neu gebildete Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren.
„Wer Trackingnummer hat, hat Verantwortung“
Dabei ist nicht die letzte Meile für Drogenbanden die größte Herausforderung, sondern das unertappte Herausbringen der „heißen Ware“ aus den engmaschig überwachten Häfen. Dies machte sich ein eingeschleuster verdeckter Ermittler der Rottweiler Kripo zunutze.
Durch Drogenkäufe, ein Trinkgelage und zahlreiche Treffen, darunter auch eines in einer Privatwohnung in Zürich, gelang es dem Beamten, das Vertrauen der Kriminellen zu gewinnen. Er gaukelte ihnen überzeugend vor, er besitze beste Kontakte in den Hamburger Hafen.
Eines Tages wandte sich der spätere Kronzeuge Edward N. an den verdeckten Ermittler: Seit sieben Tagen liege eine Tonne Kokain, die für einen anderen Hafen bestimmt gewesen sei, am Container-Terminal in Hamburg. Er müsse jetzt Ja oder Nein sagen, setzte der Bandenkopf den Ermittler unter Druck, dann würde er die Trackingnummer erhalten.
„Die Trackingnummer ist eine einmalige Kombination aus Buchstaben und Zahlen, mit der man jeden Container weltweit lokalisieren kann“, erklärte der Kriminalkommissar vor Gericht und fügte hinzu: „Das Problem ist, wer die Trackingnummer hat, hat auch immer die Verantwortung.“
Die Tonne Kokain ließ sich nicht mehr lokalisieren, andere hätten sich darum gekümmert, teilte der 35-jährige Niederländer Christopher L. mit. Er war im Bodenseekreis wohnhaft und erhielt mit zehn Jahren und acht Monaten die längste Haftstrafe aller Angeklagten in Konstanz.
Polizeihubschrauber voller Kokain
Wenig später sollte der verdeckte Ermittler 110 Kilo Kokain vom Containerschiff Safmarine Benguela aus dem Hamburger Hafen schaffen. Diesmal konnte er den Auftrag umsetzen und flog das Rauschgift – sicher und bequem – per Polizeihubschrauber in die Kripodirektion Rottweil und von dort weiter in eine Lagerhalle nach Immendingen.
Diese hatte die Kripo extra von der Gemeinde Immendingen angemietet und für ihre Zwecke umgebaut und mit Überwachungskameras ausgestattet.

Der verdeckte Ermittler bestellte kurz vor Weihnachten 2021 alle Beteiligten in die Lagerhalle. Edward N. und Christopher L. zählten gerade das in sechs Sporttaschen verpackte Kokain, als von zwei Seiten Spezialeinsatzkräfte der Polizei die Drogenhändler verhafteten.
Bei weiteren zeitgleichen Razzien und Hausdurchsuchungen, darunter in Gottmadingen, Pfullendorf und Zürich, stellten die Ermittler weitere 113 Kilo Kokain sowie 50 Kilo Cannabis sicher.
Zeugenschutzprogramm und Rückzahlung
Edward N. erhielt aufgrund seines Kronzeugenstatus sechs Jahre und zwei Monate Gefängnis – zuvor standen bis zu 13 Jahre im Raum. Er befindet sich in einem Zeugenschutzprogramm. Bis zu sieben Personenschützer des Landeskriminalamts Baden-Württemberg schirmten ihn während des Prozesses in und um das Gebäude des Landgerichts Konstanz ab.

Die einzige Beteiligte, die nicht ins Gefängnis muss, ist die Zürcher Lebensgefährtin von Edward N. Für ihre Übersetzungs- und Überweisungsdienste erhielt sie zwei Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung. Ein weiterer Angeklagter, der das Verteillager in Gottmadingen zur Verfügung stellte, erhielt sieben Jahre und sechs Monate Gefängnis.
Da sich Verbrechen nicht lohnen dürfen, ordnete das Landgericht Konstanz außerdem an, mehr als eine Million Euro einzuziehen, die die Drogenhändler mit dem Rauschgift verdient hatten – davon knapp 900.000 Euro allein von Edward N. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.