Monatelang soll sie von ihrem Bruder eingesperrt, missbraucht und gefoltert worden sein, ein Martyrium mitten in einer Konstanzer WG. „Er hat seine ganze Wut an mir rausgelassen – ich war der Sündenbock für alles, was ihn gestört hat“, erzählte die junge Frau in einer Vernehmung im Juni 2022. Sechs Monate später wurde ein Video von dieser Aussage vor dem Landgericht Konstanz abgespielt, im Prozess gegen ihren Bruder. Als Inzest-Prozess sorgt er bundesweit für Schlagzeilen. Und im Mai diesen Jahres beginnt er von vorn – wegen eines Verfahrensfehlers.
Von Anfang Januar bis Mitte Mai 2022 soll ihr Bruder sie in seinem WG-Zimmer gefangen gehalten haben. Der damals 20-Jährige soll sie mit einem Bügeleisen verbrannt, geschlagen und ihr Zitronensäure auf ihre Brandwunden an den Füßen geträufelt haben. An fünf Abenden im Mai soll er sie vergewaltigt haben. Mit einem Tuch habe er ihr den Mund verbunden, damit sie keiner schreien hört.
Erstes Urteil: Vier Jahre Haft
Die Mitbewohnerinnen des Angeklagten, so eine Polizistin später vor Gericht, hätten nichts von den Gräueltaten bemerkt, auch die Eltern nicht. Zwei Gutachterinnen, eine Rechtsmedizinerin und eine Psychologin, bestätigten vor Gericht die Aussagen der 19-jährigen Nebenklägerin.
Nach drei Verhandlungstagen im Januar 2023 wurde der junge Mann nach Jugendstrafrecht zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Sein Verteidiger, der Konstanzer Rechtsanwalt Sandro Durante, hatte zuvor Freispruch gefordert. Der Bruder wurde vom Richter in fünf Fällen der Vergewaltigung, in zehn Fällen der gefährlichen Körperverletzung und in 40 Fällen der vorsätzlichen Körperverletzung für schuldig befunden worden.
Die Verteidigung legte anschließend Revision ein – und diesem hat Mitte Oktober der Bundesgerichtshof stattgegeben. Die Karlsruher Richter hoben das Urteil des Landgerichts Konstanz auf. Der Fall wurde zur erneuten Verhandlung an eine andere Jugendkammer zurückverwiesen. Diese findet nun ab dem 8. Mai statt, drei Verhandlungstage sind angesetzt.
Wurde der Angeklagte freigelassen?
Die Begründung: Der BGH stellte einen Verfahrensfehler fest. Die Schwester, die als Nebenklägerin auftrat, hatte vor der Hauptverhandlung ihr Zeugnisverweigerungsrecht erklärt. Allerdings hatte sie bereits bei der Polizei, einer Sachverständigen und dem Ermittlungsrichter ausgesagt. Im Prozess erlaubte sie, dass ihre Aussagen bei der Gutachterin verwendet werden dürfen.
Die Jugendkammer berücksichtigte diese Aussagen später in ihrem Urteil, jedoch nicht die polizeiliche Vernehmung. Der BGH entschied, dass es unzulässig sei, dass ein Zeuge sein Zeugnisverweigerungsrecht auf einzelne Aussagen beschränken könne. Das Urteil wurde aufgehoben, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass das Gericht ohne die Aussagen zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
Dennoch bleibt der Mann vorerst im Gefängnis, wie das Landgericht bestätigte. Der Haftbefehl bleibt bestehen, der Angeklagte befindet sich in Untersuchungshaft. Eine mögliche Freilassung wird erst nach Abschluss des neuen Verfahrens und einer weiteren Gerichtsentscheidung geprüft.
Sie flohen einst aus Syrien
Der Fall sorgte für viel Aufsehen. Noch während der Urteilsverkündung brach der Vater im Gerichtssaal zusammen. Zusätzliche Sicherheitskräfte wurden herbeigerufen. Die Eltern bemühten sich am ersten Verhandlungstag noch, ihrem Sohn ein Alibi zu geben. Sie sagten aus, ihre Tochter sei nur drei Tage bei ihrem Bruder in Konstanz gewesen, die übrige Zeit habe sie bei ihnen verbracht.
Die Familie, die 2021 aus Syrien nach Deutschland geflohen war, wohnte in einer Flüchtlingsunterkunft in Schwäbisch Gmünd. Die Jugendliche lebte hier mit ihren Eltern und ihren fünf anderen Geschwistern. Der Angeklagte selbst wohnte bereits seit November 2015 am Bodensee.
Nach den Aussagen einer Polizistin wurde der Sohn innerhalb der Familie sehr verehrt: Der Sohn übernahm früh die Rolle des Alleinversorgers, auch weil sein Vater im Krieg ein Bein verlor. Mit 13 Jahren zog er alleine nach Deutschland und ermöglichte es der Familie, später nachzukommen.
Schon vorher auffällig
Der Bruder hatte die Schwester nach Konstanz geholt, weil sie ihm bei einem Umzug von einer WG in eine andere helfen sollte. Die Beamten waren bereits zuvor seinetwegen in der Flüchtlingsunterkunft tätig geworden. Dort soll er auch seine jüngeren Geschwister körperlich misshandelt haben, jedoch gab es keine Berichte über sexuelle Übergriffe.