Von Gleichheit keine Spur. Die neue Impfstatistik des Landes Baden-Württemberg weist deutliche Unterschiede in der Impfversorgung aus. Das Sozialministerium schlüsselt künftig wöchentlich den Anteil der Erst- und Zweitgeimpften nach Land- oder Stadtkreisen auf.
Wo der Laie annehmen würde, dass es im Jahr 2021 keine gravierenden Unterscheide mehr gibt zwischen Stadt und Land, zwischen Oberrhein, Alb oder Bodensee, wird er durch blanke Zahlen eines Besseren belehrt: In universitär geprägten Städten ist die Impfquote sehr hoch, in ländlichen Gegenden eher niedrig. Und: Wer in der Nähe eines großen Impfzentrums wohnt, ist im Vorteil.
Der Landrat nimmt das Land in die Verantwortung
Sven Hinterseh zählt zu den schärfsten Kritikern der Zuteilungslogik. Der Landrat des Schwarzwald-Baar-Kreises – einer ländlich geprägten Gegend – sieht krasse Ungerechtigkeit am Werk, die auch durch die neue Regierung nicht korrigiert werde. „Das Land muss endlich gegensteuern“, sagt er.

Hinterseh, der vor einem Jahr im Chefsessel des Kreises bestätigt wurde, argumentiert so: Das Land hat für die Impfungen eine doppelte Struktur aufgezogen. Einmal verfügt jeder Landkreis über ein Kreisimpfzentrum. Zusätzlich wurden fünf Zentrale Impfzentren eingerichtet – ein Kraftakt sondersgleichen. „Die Zentralen Impfzentren erhalten so viel Impfstoff wie alle Kreisimpfzentren zusammen“, hat Hinterseh herausgefunden.
Der Oberrhein ist im Vorteil
Dadurch würden bestimmte Regionen bevorzugt, sagt der Landrat. Der Oberrhein zum Beispiel. Die hervorragenden Zahlen für die Stadt Freiburg – Standort einen Zentralen Impfzentrums – belegen das seiner Ansicht nach. Dort sind 49,4 Prozent zum ersten Mal geimpft, das ist jeder Zweite. 23,9 Prozent sind bereits voll geimpft. Ähnlich gut steht Emmendingen da (51,2 Prozent erhielten ihre erste Impfung, 21 Prozent die zweite).
Im Vergleich dazu liegt der Schwarzwald-Baar-Kreis weit hinten (38,5 Prozent erste Impfung, 14,7 Prozent die zweite). Ähnliche schwache Zahlen liest man auch für den Zollernalbkreis oder den Kreis Sigmaringen – auch dort liegen die Zentralen Impfzentren weit entfernt.

Bürger fahren quer durchs Land
Wer ländlich wohnt und sich im eigenen Kreis den Piks holen will, hat schlechte Karten. Also setzen sich viele ins Auto und nehmen einen gebuchten Termin in der Ferne wahr. Auch das sei grob unsinnig, sagt Sven Hinterseh im Gespräch mit dem SÜDKURIER. „Es ist doch abwegig, dass Bürger quer durch Baden-Württemberg fahren.“ Der Politiker versteht nicht, dass das Sozialministerium keinen neuen Anlauf nimmt – und die großen Impfzentren einfach schließt, so dass alle Kraft auf die Kreiszentren geworfen wird. „Die Spreizung ist doch heftig.“
Oder liegt es am sozialen Umfeld?
Dem Sozialministerium ist klar, dass die Statistik gefährlich werden kann. Dass Zahlen ihre eigene Dynamik entfalten können, weil das Impfen viel mit Gesundheit zu tun hat und mit der Gerechtigkeit von Lebenschancen. In der umfangreichen Pressemitteilung verweist das für die Coronakrise zentrale Ressort auf Ursachen, die älter sind also die Krise. Wenig geimpft seien vor allem „Bevölkerungsgruppen, die vergleichbar schwierige sozioökonomische Bedingungen aufweisen“, heißt es in dem Schreiben. Im Klartext: Wer sozial schwach oder finanziell klamm sei, meide eben das Impfen. Mit dieser Erklärung wäre das Sozialministerium fein heraus – das soziökonomische Umfeld ist älter als die Pandemie. Landrat Hinterseh überzeugt diese Erklärung nicht.
Die Zuteilung ist gerechter geworden
Sein Konstanzer Kollege Zeno Danner sieht es ähnlich: „Die Entfernung zum Zentralen Impfzentrum spielt eine große Rolle“, sagt er. Wer näher dran wohnt, sei im Vorteil. Die Impfquote für den Landkreise Konstanz bewegt sich im unteren Mittelfeld. Dennoch hat Konstanz eine niedrige Inzidenz, beobachtet der Landrat. Er sieht das vor allem als Erfolg des langen Testwochenendes in seinem Kreis an (23. bis 25. April).
Zeno Danner gehörte zu den ersten Politikern, die sich die pauschale Zuteilung von Impfstoff kritisierten. So erhielt ein bevölkerungsreicher Kreis Anfang des Jahres noch dieselbe Menge an Impfstoff wie ein dünn besiedelter Kreis. Das habe sich inzwischen gebessert, die Verteilung des begehrten Stoffs sei jetzt gerechter geworden. Das Sozialministerium bestätigt diesen Eindruck: Nach der anfangs noch pauschalen Zuteilung der begehrten Kartons wird jetzt nach Bedarf und Köpfen sortiert.
Nicht alle kümmern sich um einen Termin
Das viel kritisierte Ministerium widerspricht der Sicht der Landräte. Entscheidend für die Impfbereitschaft sei nicht das gut ausgestattete Impfzentrum um die Ecke, sondern die familiäre Situation. Uwe Lahl, der zweite Mann im Sozialministerium nach Minister Lucha, erklärt es mit einem Beispiel: Die gut situierte und gebildete Familie wird sich eher um einen Termin bemühen als eine Familie, die in Schwierigkeiten steckt. Er sagt es direkt: „Entscheidend ist die Motivation der Bevölkerung, sich um einen Impftermin zu kümmern.“ Für Menschen „im täglichen Überlebenskampf“ sei das schwierig.
Auf die Hausärzte kommt es an
Gleichwohl räumt Lahl klar Versäumnisse ein. Die überforderten Telefonzentren sind eines davon, denn: „Unsere Software ist eine Hürde.“ Außerdem wolle das Land noch mehr mobile Impfteams auf die Straße schicken, um auch jene zu erreichen, die bisher keinen Einladung für die Immunisierung erhielten. „Da werden wir nachsteuern“, verspricht er.
Die Hausärzte sind ein zweiter, wichtiger Pfeiler der Kampagne, um die Pandemie zu bekämpfen. Sie erwerben den Impfstoff unabhängig vom Land, erwähnt Lahl. Damit stocken sie das noch immer begrenzte Kontingent des Landes (330.000 Dosen pro Woche) auf, und das sei gut so. Denn das Material sei noch immer begrenzt. Ob bis zum Ende der Sommerpause jeder in Baden-Württemberg seine beiden Spritzen erhalten hat, will und kann der Amtschef Lahl nicht versprechen.