48 Stunden nach der Massenschlägerei in der Singener Innenstadt zwischen mehreren verfeindeten syrischen Familien konnte der SÜDKURIER mit einigen Tatbeteiligten sprechen. Sie haben bei der Auseinandersetzung am Dienstag, die einen Großeinsatz von Polizei und Rettung zur Folge hatte, auf den ersten Blick sichtbare Blessuren, Schnittverletzungen und Knochenbrüche davon getragen. Aus Angst vor weiteren Angriffen wollen sie nicht mit Namen genannt werden.
Laut ihren Aussagen waren vor Beginn der Massenschlägerei lediglich drei Jugendliche von unterschiedlichen syrischen Familien zum Singener Bahnhof unterwegs.
Vor dem Haupteingang des Einkaufszentrums Cano sollen diese von mehreren Mitgliedern jener syrischen Großfamilie beschimpft und provoziert worden sein, die auch für die Singener Messerattacke vom Dezember 2020 sowie weitere Attacken in Singen und Freiburg verantwortlich ist. Zahlreiche Mitglieder dieses Clans wurden bereits rechtskräftig verurteilt, sitzen im Gefängnis oder verbüßen eine Bewährungsstrafe samt Probezeit.
„Die Polizei kann euch nicht schützen“
Zunächst seien die Jugendlichen weitergelaufen. Dann hätten sie auf die Beleidigungen und Provokationen, darunter angeblich Anspielungen auf den Geschlechtsverkehr mit ihren weiblichen Familienmitgliedern – reagiert und wohl zurück geschimpft. Plötzlich hätte die größere Gruppe „angegriffen“, woraufhin die drei Jugendlichen ihrerseits Verstärkung herbeigerufen hätten.

Bei den verschiedenen Schlagabtäuschen ging schließlich einer der mutmaßlichen Angreifer der amtsbekannten Großfamilie nahe des Canos zu Boden, blieb liegen und musste von Rettungssanitätern später behandelt werden, wie mehrere Zeugen und auch ein Handyvideo bestätigen.
Etwa 20 Polizeibeamte hätten in der Hegaustraße vorm Cano – zum Teil unter Einsatz von Pfefferspray – versucht, die beiden Gruppen voneinander zu trennen. Auf Arabisch sollen Mitglieder der Großfamilie der anderen Gruppe zugeschrien haben, dass die Polizei sie nicht schützen könne.
„Schere nicht geöffnet und nicht spitz“
Ein leitender Polizist soll der kleineren Gruppe gesagt haben, sie solle sich nicht provozieren lassen und nach Hause gehen, worauf diese sich auf den Weg gemacht hätte in Richtung Thurgauer Straße. Daraufhin sei ein Teil der mutmaßlichen Angreifergruppe über die August-Ruf-Straße und Hadwigstraße einmal um den Block gelaufen, um die andere Gruppe abzupassen.
Daraufhin soll ein Mitglied der Großfamilie mit einer Haushaltsschere drei Mal versucht haben, jenen Jugendlichen schwer zu verletzen, der zuvor einen der mutmaßlichen Angreifer zu Boden schlug. Dabei sei auch ein Pullover zerstört worden, den die Polizei später als Beweismittel einbehalten habe.
„Zum Glück war die Schere nicht geöffnet und nicht spitz, sonst wäre das viel schlimmer ausgegangen“, sagt einer der Tatbeteiligten. Der SÜDKURIER-Reporter konnte sich von einem langen Schnitt am Nacken von einem der Tatbeteiligten, welcher jedoch nicht genäht werden musste, überzeugen. Fotografieren lassen wollte der Verletzte die Stelle nicht – auch hier überwog die Angst, deswegen erkannt und erneut attackiert zu werden.
Kampf um Schere
Zurück zur Massenschlägerei: Nach der Schnittverletzung soll es zu einem Gerangel um die Schere gekommen sein. Auf einem Handyvideo ist zu sehen, wie mehrere junge Männer einen anderen festhalten und versuchen, ihm die Schere abzunehmen, „damit er niemanden mehr verletzten kann“.
Laut Angaben der jungen Männer sei ihnen das auch gelungen und sie hätten die Schere unter ein parkendes Auto geworfen und später der Polizei übergeben. Die Polizei hat auf Anfrage bis zur Veröffentlichung des Artikels keine Aussage getroffen, ob dies so zutrifft.

Außerdem hätten Tatbeteiligte, die laut eigenen Angaben unbewaffnet gewesen seien, bei ihren Kontrahenten neben einer Schere auch ein kleineres Messer sowie einen harten Gegenstand in der Hand beobachtet, der ein ungeöffnetes Klappmesser gewesen sein könnte.
Polizei geht von „Stichwerkzeug“ aus
Laut Kathrin Rosenthal vom Polizeipräsidium Konstanz konnten nach der Massenschlägerei in der Singener Innenstadt lediglich „leichte Verletzungen dokumentiert werden“, welche jedoch „auf ein Stichwerkzeug hindeuten“. Auch am Freitag wollte die Polizei keine genaueren Details nennen.
Weitere Erkenntnisse sollen die Auswertung des vorliegenden Videomaterials sowie „mögliche Aussagen von Tatbeteiligten“ bringen, welche nach vorübergehenden Festnahmen alle wieder auf freiem Fuß sind.

Mehrere Tatbeteiligte, die sich laut eigenen Angaben nur selbst verteidigen hätten wollen, sind sich sicher, dass der seit zwei Jahren schwelende Konflikt innerhalb der syrischen Community in Singen solange weiter gehen werde, bis es – wie bei der Singener Messerattacke vom Dezember 2020 – zu lebensgefährlichen Verletzungen komme. Sie sehen die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die Stadt Singen in der Pflicht, dies zu verhindern.
Der SÜDKURIER hat auch der von den anderen Tatbeteiligten beschuldigten Großfamilie über deren Anwalt angeboten, eine Stellungnahme mit ihrer Sichtweise zur Singener Massenschlägerei abzugeben und ein Gespräch zu führen, aber bis zur Veröffentlichung des Artikels nicht geantwortet. Kurz nach der Tat hatte der Anwalt jedoch betont, die Familie verhalte sich seines Wissens „vorbildlich und ruhig in Singen“.
Mitglieder jener Familie wiederum, deren Angehörige bei der Messerattacke 2020 verletzt wurden, waren derweil wohl nicht an der aktuellen Schlägerei beteiligt – das jedenfalls versichern mehrere Quellen unabhängig voneinander dem SÜDKURIER. Für alle Beteiligten gilt die Unschuldsvermutung.