Die Schweiz weitet die Corona-Nachweispflicht auf weite Teile des öffentlichen Lebens aus. Nachdem die Eidgenossen bislang nur beim Besuch von Discos oder Großveranstaltungen geimpft, genesen oder negativ getestet sein mussten, gilt dies ab 13. September unter anderem auch für Restaurants sowie private und öffentliche Veranstaltungen. Nur noch wenige Bereiche werden von der 3-G-Regel ausgenommen, etwa Geschäfte oder öffentliche Verkehrsmittel.

Der Bundesrat begründet seine Entscheidung mit der drohenden Überlastung der Intensivstationen und will außerdem erneute Lockdowns vermeiden. „Die Alternative ist die Schließung, wenn es nicht gut geht“, sagte Gesundheitsminister Alain Berset vor Medienvertretern.

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Chef der Berner Impfkampagne: „Schlechtere Karte für Nichtgeimpfte“

Die Kliniken weisen seit längerer Zeit auf die steigende Auslastung hin. Bislang zögerte die Schweizer Regierung allerdings, Schritte zu unternehmen, wie sie hierzulande und in den weiteren Nachbarländern längst üblich sind. Jüngst machte das Horrorszenario von der Triage die Runde.

Für Aufregung sorgten Äußerungen aus Zürich und Bern. Die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli sagte in einem Interview Richtung Impfgegner, sie müssten eigentlich freiwillig auf Behandlungen bei einer Corona-Erkrankung verzichten. Gregor Kaczala, der die Impfkampagne in Bern leitet, erklärte: „Ich hoffe, wir müssen nicht Triage-Entscheidungen treffen. Sollte es so sein, befürchte ich schlechtere Karten für Nichtgeimpfte.“

Medizinethiker mahnen: Keine anderen Triage-Kriterien für Ungeimpfte

Medizinethiker steuern eilig gegen. „Die Triage darf ausschließlich nach medizinischen Kriterien erfolgen“, erklärt Franziska Egli von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) gegenüber dem SÜDKURIER. Entscheidend sei die „kurzfristige Überlebensprognose aller Patienten, die eine Intensivtherapie benötigen“. Die SAMW gibt für solche Extremfälle Richtlinien heraus.

Keine Rolle dürfe die Frage spielen, ob die gesundheitliche Situation selbst verschuldet sei. „Ob jemand geimpft oder ungeimpft ist, hat also keinen Einfluss“, sagt Egli. Der Impfstatus könne als Kriterium allenfalls „mitentscheidend sein“, ergänzt sie, also wenn die Prognose wegen des fehlenden Impfschutzes schlechter sein sollte.

Aargau, Thurgau und Zürich: Kaum mehr freie Intensivbetten

Das Problem der vollen Intensivstationen ist damit nicht aus der Welt. Zu etwas mehr als 80 Prozent sind sie schweizweit laut Bundesamt für Gesundheit (BAG) belegt (alle Stände 9. September). Es ist ein Höchstwert im Laufe von eineinhalb Jahren Pandemie, der selbst zum Jahreswechsel während der vierten Welle nicht überschritten wurde.

Einige Kantone liegen noch einmal deutlich darüber, darunter die an Deutschland grenzenden Aargau und Thurgau. Dort sind nur noch zwölf beziehungsweise drei Prozent frei. Im Kanton Zürich, der die mit Abstand höchste Kapazität hat, sind von 180 nur noch 13 Intensivbetten frei.

Zwar sind auch in deutschen Kliniken die Intensivbetten zu mehr als 80 Prozent belegt. Hierzulande ist jedoch nur ein Bruchteil davon, fünf Prozent, auf Covid-Fälle zurückzuführen. Von den derzeit 700 belegten Intensivbetten in der Schweiz sind dagegen rund 42 Prozent Corona-Patienten. Auch das: ein Höchstwert im westlichen Europa.

Erste Kliniken müssen Patienten verlegen und OPs verschieben

Dieser führt dazu, dass betroffene Schweizer Kliniken wieder angefangen haben, nicht notwendige Operationen zu verschieben. Andere haben sich an den Koordinierten Sanitätsdienst (KSD) gewandt. Diese zentrale Stelle organisiert die Verlegung von Patienten per Helikopter in andere Krankenhäuser. Spitzt sich die Lage weiter zu, würden gemäß der KSD-Empfehlungen zusätzliche Notfallbetten aufgestellt, sogenannte Ad-Hoc-Betten. Außerdem würde man im Ausland um Hilfe bitten.

Erst dann käme es zu Auswahl der Patienten mit den kurzfristig besten Überlebenschancen durch Ärztinnen und Ärzte, der harten Triage also. Laut Schweizerischer Medizinwissenschaftsakademie kam das seit Beginn der Pandemie noch nicht vor.

Triage-Warnung und Ausweitung der Nachweispflicht als Impfmotivation?

Dass kantonale Gesundheitsbehörden vor ihr als Schreckensszenario schon jetzt gewarnt haben, dürfte daher auch als zusätzliche Motivation für die überdurchschnittlich impfunwillige eidgenössische Bevölkerung zu bewerten sein.

Zu wenig Interesse an der Impfung? In der Schweiz ist die Impfquote im europäischen Vergleich besonders niedrig. Hier demonstrieren ...
Zu wenig Interesse an der Impfung? In der Schweiz ist die Impfquote im europäischen Vergleich besonders niedrig. Hier demonstrieren Gegner der Schweizer Corona-Politik am 8. September in Bern gegen die Ausweitung der Zertifikatspflicht. | Bild: Marcel Bieri

Die Quote der vollständig Geimpften liegt am 9. September mit 52 Prozent noch einmal zehn Prozentpunkte unter der stagnierenden deutschen. Von den vielen Covid-Patienten auf den Intensivstationen sind laut BAG fast alle ungeimpft. In dieselbe Richtung wie die Triage-Debatte zielt somit der vom Bund getroffene Beschluss, die Nachweispflicht auszuweiten.

Künftig muss, abzüglich der Genesenen und nicht unter 3-G-Regel fallenden 16-Jährigen, ungefähr jeder vierte Schweizer einen Corona-Test machen, wenn er ins Restaurant oder Fitnesscenter will. Die Tests werden ab 1. Oktober kostenpflichtig sein – die alternative (kostenlose) Impfung dürfte also an Popularität gewinnen.

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