Er ist 17 Jahre jung, als Joachim Bruckauf aus Tengen am 25. Oktober 1984 das Haus seiner Großeltern im Nachbarort Blumenfeld verlässt. Er will seinen Opa im Singener Krankenhaus besuchen, wo er jedoch nie ankommen sollte. Bis heute – seit fast 37 Jahren – fehlt von ihm jede Spur.

Eines der letzten Bilder von Joachim Bruckauf: Es zeigt den sportlichen Jungen in Jeans und mit Sportschuhen in lässiger Haltung. Auf ...
Eines der letzten Bilder von Joachim Bruckauf: Es zeigt den sportlichen Jungen in Jeans und mit Sportschuhen in lässiger Haltung. Auf den linken Unterarm hatte er sich ein Ninja-Zeichen tätowieren lassen. | Bild: Privat/Montage: Ute Schönlein

Der Fall des 17-jährigen Joachim ist einer von mehr als 400 so genannten „Cold Cases“ in Baden-Württemberg. Dabei handelt es sich um ungelöste Kriminalfälle und Langzeitvermisste, bei denen die Polizei von einem Tötungsdelikt ausgeht. Im Verantwortungsbereich des Polizeipräsidiums Konstanz, das die Landkreise Tuttlingen, Schwarzwald-Baar und Konstanz umfasst, sind es „annäherend 20 kalte Fälle aus den Jahren 1961 bis 2007“, sagt Thomas Föhr, Leiter der Kriminalpolizeidirektion Rottweil, dem SÜDKURIER.

Ermittlungsgruppe „Cold Case“

Wie in den USA und Großbritannien setzen deutsche Ermittlungsbehörden seit kurzem auf eigene „Cold Case“-Einheiten. 2019 hat das Landeskriminalamt (LKA) Stuttgart eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen und im April 2021 eine eigene Fachaufsicht, um ungelöste Kriminalfälle künftig in ganz Baden-Württemberg systematischer und strukturierter neu aufrollen zu können. „Wir müssen sicherstellen, dass Tötungs- und Vermisstenfälle in allen 13 Polizeipräsidien im Land nach heutigen Methoden qualitätsgesichert überprüft werden“, sagt Andreas Stenger, seit Mai Chef des LKA, im SÜDKURIER-Gespräch. „Cold Case“-Ermittlungsgruppen sollen nun flächendeckend über Baden-Württemberg ausgerollt werden, kündigt Stenger an.

Andreas Stenger, neuer Chef des Landeskriminalamts Baden-Württemberg, in seinem früheren Büro, als er noch Polizeipräsident in Mannheim war.
Andreas Stenger, neuer Chef des Landeskriminalamts Baden-Württemberg, in seinem früheren Büro, als er noch Polizeipräsident in Mannheim war. | Bild: DPA/Uwe Anspach

Einer der Vorreiter ist das Konstanzer Polizeipräsidium, das bereits im Dezember 2020 bei der Kripodirektion Rottweil eine eigene „Cold Case“-Ermittlungsgruppe gegründet hat. „Bisher haben Kollegen Altfälle neben dem Alltagsgeschäft weiter begleitet und ermittelt. Nun kümmern sich drei Kriminalisten, eine Frau und zwei Männer, mit besonderer Ermittlungserfahrung im Bereich Kapital- und Tötungsdelikte und forensischer Spurensicherung ausschließlich um diese Fälle, um noch mehr in die Tiefe zu gehen – das hat es so noch nie gegeben“, sagt der Leitende Kriminaldirektor Föhr.

„Sehen aus wie Astronauten“

Neue Ermittlungsansätze, alte Spuren und Asservate – also Gegenstände, die die Polizei als Beweismittel für eine Gerichtsverhandlung beschlagnahmt hat – werden jetzt mit den neuesten technologischen Möglichkeiten überprüft, die die Kriminaltechnik zu bieten hat. „1961 hat noch niemand etwas von einer DNA gewusst. Heute haben wir ganz andere forensische Auswertemethoden – sei es in der Mikrobiologie, bei Fingerabdrücken oder Faserspuren“, sagt Föhr. So könne die Polizei nun Spuren ganz anders sichtbar machen also noch vor 20 oder 30 Jahren. Und über Haaruntersuchungen könne man sogar eine Einschätzung abgeben, in welcher Region sich jemand in Europa aufgehalten hat.

Ein Spurensicherer tauscht sich mit Kriminalpolizisten am Tatort zu einem Tötungsdelikt aus.
Ein Spurensicherer tauscht sich mit Kriminalpolizisten am Tatort zu einem Tötungsdelikt aus. | Bild: René Laglstorfer

Wurden früher Verdächtige noch zur Rekonstruktion an den Tatort geführt, so wäre dies heute undenkbar, sagt LKA-Chef Stenger dem SÜDKURIER. Spurentechniker am Tatort sähen heute aus wie Astronauten, um zu verhindern, dass es eine Verfälschung der Spuren durch Dritte gibt. Habe die Polizei in den 80er-Jahren noch eine relativ große Menge an DNA-Material für eine Auswertung gebraucht, so würden heute dafür bereits wenige Hautschüppchen reichen. „Ein Täter kann nie verhindern, dass er ein Hautschüppchen verliert. Das zeigt das Vordringen in den Minimalspurenbereich, aber diese Innovationen gibt es nie zum Nulltarif“, spricht Stenger auch große Investitionen an – darunter DNA-Untersuchungsgeräte, die viel feinfühliger seien als früher.

Studenten ermitteln

In die Karten spielt den „Cold Case“-Ermittlern auch, dass sich über den Lauf der Jahre bei Zeugen die Lebensumstände und Beziehungen verändern. „Manche Zeugen sind froh, wenn wir noch einmal nachfragen. Dabei stoßen wir auch auf Menschen, die die Dinge von damals jetzt anders sehen und manchen Hinweis schon lange mit sich herumtragen“, sagt Föhr, Kripochef im Polizeipräsidium Konstanz.

Zeugen von Tötungsdelikten werden auch nach Jahrzehnten neu befragt.
Zeugen von Tötungsdelikten werden auch nach Jahrzehnten neu befragt. | Bild: LKA Baden-Württemberg

Zudem gebe es bei den ungelösten Kriminalfällen auch eine Zusammenarbeit mit der Hochschule der Polizei in Villingen-Schwenningen, wie der Leiter der neuen Ermittlungsgruppe im Präsidium Konstanz, Kriminalhauptkommissar Andreas Reichert, dem SÜDKURIER erklärt. „Im Modul ‚Cold Case‘ bekommen die Studierenden einen Fall von uns und können in einem geschützten Rahmen eine Täterhypothese aus einem völlig anderen Blickwinkel heraus erarbeiten“, sagt Reichert.

Kriminalhauptkommissar Andreas Reichert, Leiter der „Cold Case“-Ermittlungsgruppe im Polizeipräsidium Konstanz
Kriminalhauptkommissar Andreas Reichert, Leiter der „Cold Case“-Ermittlungsgruppe im Polizeipräsidium Konstanz | Bild: LKA Baden-Württemberg

Hochleistungsscanner zum Preis eines Pkw

320 Ordner mit alten Akten, die über kurz oder lang sonst zerbröselt wären, hat sein Ermittlungsteam in den vergangenen Monaten recherchefähig eingescannt und damit für die Zukunft konserviert. Das heißt, dass in den alten Akten – unabhängig von deren Papierqualität – nun eine digitale Volltextsuche möglich ist, was Abfragen und Recherchen unheimlich erleichtert und beschleunigt. Dafür hat die Kripodirektion Rottweil einen Hochleistungsscanner zum Preis eines Mittelklassewagens geleast, wie deren Chef Thomas Föhr verrät.

320 alte Aktenordner hat die Kripo Rottweil im Polizeipräsidium Konstanz recherchefähig digitalisiert, um sie vor dem Verfall zu bewahren.
320 alte Aktenordner hat die Kripo Rottweil im Polizeipräsidium Konstanz recherchefähig digitalisiert, um sie vor dem Verfall zu bewahren. | Bild: Britta und Ralph Hoppe

„Cold Cases“ aus den 90er-Jahren hätten derzeit die größten Erfolgsaussichten, gelöst zu werden, sagt LKA-Chef Stenger. „Je länger die Fälle zurückliegen, umso schwieriger.“ Manchmal klären die Kriminalisten auch Fälle, bei denen die Täter bereits verstorben seien. Aber das Alter der Fälle sei für die Ermittler kein Auswahlkriterium. Wichtiger sei vielmehr, wo es noch Beweismittel gebe und neue Spuren zu erwarten seien, so der oberste Kriminalist des Landes. Wenn der „Cold Case“ dann zum „Hot Case“ werde, steige man mit dem gesamten Ermittlungsapparat ein.

„Die Akte wird nie geschlossen“

„Wir möchten mit unserer Arbeit auch ein Zeichen für die Angehörigen setzen, dass die Polizei dran ist und wir den Fall nicht vergessen haben“, so Andreas Reichert, Leiter der „Cold Case“-Ermittlungsgruppe im Polizeipräsidium Konstanz. Denn für die Angehörigen gebe es kaum etwas Belastenderes als einen nahestehenden Menschen durch ein Kapital- oder Tötungsdelikt zu verlieren, wie Kripochef Föhr sagt. „Ich stell mir das furchtbar und lebenslang belastend vor. Viele Betroffene können erst mit so einem Verbrechen abschließen, wenn ein Täter oder Urteil da ist.“

Thomas Föhr, Leiter der Kriminalpolizeidirektion Rottweil
Thomas Föhr, Leiter der Kriminalpolizeidirektion Rottweil | Bild: Polizeipräsidium Konstanz

Föhr hofft, dass seine Ermittler bei dem einen oder anderen Fall die Erwartungen der Angehörigen erfüllen können. „Der Anspruch, dass wir alle aufklären, wäre vermessen. Es geht auch um Gerechtigkeit und Opferzufriedenheit – deshalb verjährt Mord nie, die Akte wird nie geschlossen“, sagt der Leitende Kriminaldirektor.

Abschaffung von Verjährungsfristen?

Aber was ist mit anderen schweren Verbrechen wie Totschlag oder Kindesmissbrauch? Der neue Chef des Landeskriminalamts, Andreas Stenger, hat sich für eine Abschaffung der Verjährungsfrist in bestimmten Fällen ausgesprochen. „Von meinem kriminalistischen Denken her würde ich es befürworten“, sagt Stenger. „Meine Meinung wäre, dass man bei Totschlag und richtig schweren Straftaten mit großem Opferleid über die Verjährungsfristen nachdenken sollte – wenn wir die Aussicht haben, diese Fälle auch nach langer Zeit noch zu klären.“

Ralf Kusterer, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft Baden-Württemberg
Ralf Kusterer, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft Baden-Württemberg | Bild: DPA/Marijan Murat

Auch der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Ralf Kusterer, fordert ein Ende der Verjährungsfristen schwerster Straftaten. „Man muss die Verjährungsdebatte neu eröffnen“, sagt Kusterer. „Es ist doch schizophren, wenn wir heute schwerste Taten aufklären können und dann wegen Verjährungsfristen die Täter freigesprochen werden würden. Es ist Zeit, dass wir solche Fragestellungen stärker aus Opfersicht bewerten.“ Totschlag oder der sexuelle Missbrauch von Kindern dürften nicht einfach so ad acta gelegt werden.

Politik zurückhaltend

Die neue Justizministerin Marion Gentges (CDU) reagiert hingegen zurückhaltend. Die Debatte müsse vor „vor dem Hintergrund hoher verfassungsrechtlicher Hürden“ besonders sorgfältig geführt werden. „Das Gesamtgefüge der strafrechtlichen Verjährungsfristen ist lange gewachsen und fein austariert.“ Bei vielen Delikten seien die Verjährungsfristen bereits sehr lange, bei bestimmten Delikten gegen Kinder und Jugendliche begännen sie erst zu laufen, wenn das Opfer älter als 30 Jahre sei.

Marion Gentges (CDU), Ministerin der Justiz und für Migration in Baden-Württemberg
Marion Gentges (CDU), Ministerin der Justiz und für Migration in Baden-Württemberg | Bild: DPA/Marijan Murat

Dagegen begrüßt der Opferverband Weißer Ring den Anstoß. „Die Opfer oder deren Angehörigen erwarten bei Straftaten wie Totschlag oder Vergewaltigung die Bestrafung der Täter, auch wenn diese erst nach vielen Jahren ermittelt werden können“, sagt Hartmut Grasmück vom Landesverband. „Verjährungsfristen sollten dies nicht verhindern.“