Morgens die Berufspendler. Mittags die Touristen. Dazwischen der Schwerlastverkehr. Durchschnittlich 20.000 Fahrzeuge am Tag. Stau zu jeder Tages- und Jahreszeit. Willkommen in Hagnau, wo die dauerüberlastete B31 das Ortsbild mehr prägt als die malerische Lage zwischen Bodensee und Weinbergen.

„Der Verkehr muss weg vom See“, das ist für die Verkehrsinitiative Hagnauer Bürger klar. Sie wünschen sich eine Umgehungsstraße im Hinterland und das schon seit vielen Jahren. Gebaut wurde bislang nichts.

Große Pläne für Bodensee-Autobahn

Es gilt, viele Interessen zu berücksichtigen. Kein anderer Ort will eine neue Straße bei sich, kein Naturschützer wichtige Lebensräume wie Weinberge, Wald oder Wiesen opfern. Die Menschen aus der Region wollen ihre Arbeitsplätze erreichen, die Touristen ihre Urlaubsziele.

Ein Straßenstück, über das mehr Verkehr rollt, als es Fahrbahn und Anwohner aushalten können – das gibt es nicht nur in Hagnau. Das war in Sipplingen und in Fischbach bis zum Ausbau der B31 ein Thema, das ist in Markdorf oder Stockach nach wie vor der Fall.

Um die seenahen Orte zu entlasten, gab es bereits in den 70er-Jahren große Pläne für eine Bodensee-Autobahn von Singen bis Lindau. Nach erbitterten Streits über Kosten und Nutzen, über Größenwahn, Baulärm und Naturschutz sind sie in der Schublade verschwunden.

Die Verkehrsinitiative Hagnauer Bürger setzt sich schon lange für eine Umgehungsstraße ein, wie hier im Jahr 2023.
Die Verkehrsinitiative Hagnauer Bürger setzt sich schon lange für eine Umgehungsstraße ein, wie hier im Jahr 2023. | Bild: Verkehrsinitiative Hagnauer Bürger e. V.

Gesetz von Angebot und Nachfrage

Was bleibt, sind immer mehr Autos – und Menschen, die in Bürgerinitiativen mit viel Herzblut für ihre jeweiligen Interessen kämpfen – übrigens nicht nur am Bodensee, sondern überall in Deutschland. Wo könnte eine Umgehungsstraße lang führen? Wie groß soll diese sein? Wie werden Tiere und Pflanzen geschützt?

Selten aber werden dabei ganz grundsätzliche Fragen diskutiert: Wollen wir überhaupt neue Straßen? Löst mehr Asphalt das Problem? Oder stauen sich die Autos dann eben anderswo, weil attraktivere Straßen auch mehr befahren werden?

„Wenn ich ein Produkt besser mache, wird es auch mehr nachgefragt, es wäre komisch, wenn nicht“, sagt Markus Friedrich, Inhaber des Lehrstuhls für Verkehrsplanung und Verkehrsleittechnik am Institut für Straßen- und Verkehrswesen der Universität Stuttgart lapidar. Das gelte für neue Straßen genauso wie für neue Radwege oder bessere Verbindungen mit Bus und Bahn.

Markus Friedrich, Inhaber des Lehrstuhls für Verkehrsplanung und Verkehrsleittechnik am Institut für Straßen- und Verkehrswesen der ...
Markus Friedrich, Inhaber des Lehrstuhls für Verkehrsplanung und Verkehrsleittechnik am Institut für Straßen- und Verkehrswesen der Universität Stuttgart | Bild: Universität Stuttgart

Verkehr nimmt durch Umgehungsstraßen zu

Das Gesetz von Angebot und Nachfrage trifft eben auch auf den Straßenverkehr zu. Fachleute sprechen von induziertem Verkehr. „Es gibt viele gut erforschte Beispiele, bei denen man sieht, dass der Verkehr durch eine Umgehungsstraße um bis zu 40 Prozent zugenommen hat, ähnliches gilt für den Ausbau von Autobahnen“, sagt Bastian Greiner, Mobilitätsreferent beim Umwelt- und Naturschutzverband BUND Baden-Württemberg.

Warum sollte man das Auto auch ausgerechnet dann stehen lassen und den Zug nehmen, wenn die neue Straße plötzlich freie Fahrt auf vier Spuren verspricht? Warum sich weiter bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad abstrampeln, wo kein Stau mehr die motorisierte Fahrt blockiert? Menschen sind nun mal bequeme Gewohnheitstiere. Und vielleicht auch nicht immer besonders schlau.

Bastian Greiner, Mobilitätsreferent beim BUND Baden-Württemberg
Bastian Greiner, Mobilitätsreferent beim BUND Baden-Württemberg | Bild: Dominic & Marilena Hahn

Denn da baut man ihnen eine neue Straße, damit sie ihren Arbeitsplatz schneller erreichen können. Und was machen sie mit der gewonnenen Zeit? Nein, nicht etwa joggen gehen, mit den Kindern spielen oder ein leckeres Essen kochen. Sie investieren sie wieder komplett in Mobilität.

Das Reisezeitbudget der Deutschen beträgt seit Jahren etwa eine Stunde und 20 Minuten täglich. Kommt man in dieser Zeit weiter, werden eben entferntere Ziele gewählt. Zwischen Wohnort und Arbeitsplatz können mehr Kilometer liegen. Der Radius für Tagesausflüge vergrößert sich. Der Verkehr nimmt zu. Das Staurisiko auf der neuen Straße wächst.

Das eigentliche Problem liegt woanders

Was also tun, in Hagnau und anderswo? Das Problem ist, dass sich das eigentliche Problem vor Ort gar nicht lösen lässt. Natürlich kann man eine weitere Umgehungsstraße bauen und die Anwohner entlasten. Letztlich ist es aber so, dass sich Politiker mit solchen kleinen Infrastrukturprojekten nur um ein sehr viel größeres Projekt herummogeln: um die Verkehrswende in Deutschland.

Aktuell sind hierzulande 49 Millionen Pkw zugelassen – so viele wie noch nie. Wie viele mehr verträgt dieses Land noch? Oder sind es vielleicht gar schon zu viele, wenn immer neue Straßen gebaut werden müssen – das Geld aber nicht einmal reicht, um bestehende Straßen, Tunnels und Brücken in Schuss zu halten?

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Weniger Auto fahren

Andere Länder haben die Zahl der Autos inzwischen staatlich reguliert und bauen darauf ihre Verkehrspolitik auf. So kann in Singapur nur dann ein Auto zugelassen werden, wenn es ein freies Kennzeichen gibt – deren Zahl ist begrenzt.

In Dänemark beträgt die Zulassungsgebühr zwischen 50 und 100 Prozent des Neupreises des Autos. „Das führt zu kleineren Fahrzeugen und einem Motorisierungsgrad, der 20 Prozent geringer ist als in Deutschland“, sagt Markus Friedrich.

Er ist sich sicher: Auch in Deutschland bekommen wir Verkehrsprobleme nur dann in den Griff, wenn wir nicht einfach weiter neue Straßen bauen – sondern auch weniger Auto fahren. Das wird nur langsam gehen, weil viele Menschen seit Jahrzehnten ihren Alltag so organisieren, dass er ohne Auto gar nicht funktioniert.

„Wir müssten eine Siedlungsentwicklung haben, die darauf setzt, dass Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeit wieder auf kurzen Wegen im Umkreis von maximal 10 bis 15 Kilometern zu erreichen sind“, sagt Bastian Greiner. Das sei die Entfernung, die mit ÖPNV und E-Bike gut machbar sei im Alltag.

Stau ohne Ende: Vor allem im Sommer ist dieses Bild in Hagnau Alltag.
Stau ohne Ende: Vor allem im Sommer ist dieses Bild in Hagnau Alltag. | Bild: Felix Kästle/dpa

Restriktionen für Autofahrer

Schmackhafter machen könnte man den Menschen das mit breiteren Radwegen, die asphaltiert sind, im Winter gut beleuchtet und geräumt. Mit einer Zugstrecke für die Bodenseegürtelbahn zwischen Radolfzell und Friedrichshafen, die zweigleisig und elektrifiziert dafür sorgt, dass Verspätungen die Ausnahme und nicht die Regel sind.

„Der viel größere, aber natürlich unangenehmere Hebel sind Restriktionen für Autofahrer“, sagt Markus Friedrich. Denn egal wie gut man mit Zug, Bus oder Fahrrad vorankommt: Es wird selten so schnell und komfortabel sein wie mit dem eigenen Pkw. „Das ist einfach utopisch“, so Friedrich. Dem Einzelnen bringe das Auto zwar viele Vorteile. „Zu viel Autoverkehr aber verursacht Probleme, besonders in den Städten und für die Umwelt.“

Firmen bezuschussen ÖPNV-Tickets

Noch aber versucht man, die Menschen am Bodensee und im Rest des Landes zu belohnen, wenn sie auf alternative Verkehrsmittel umsteigen. Viele Firmen bezuschussen Tickets für den ÖPNV oder bieten Finanzierungsprogramme für Jobräder an.

Auch im Tourismus ist man sehr aktiv geworden die letzten Jahre. Urlauber, die über Nacht bleiben, können mit Gästekarten kostenlos den ÖPNV nutzen. Es gibt länderübergreifende Fahrkarten, Kombitickets für verschiedene Verkehrsmittel wie Bus und Fähre oder Fahrrad und Zug.

Dazu eines der am besten ausgebauten Radwegenetze in Baden-Württemberg. Und das Deutschlandticket als zusätzlichen Anreiz gerade für Einheimische oder Tagesgäste, bei Ausflügen einfach mal probeweise auf Bus und Bahn umzusteigen.

„Wir haben wirklich sehr viele gute Angebote für Touristen wie für Einheimische, die ohne Auto funktionieren“, sagt Nina Hanstein, Geschäftsführerin der Internationalen Bodensee Tourismus GmbH. Ob man diese dann auch nutze und das Auto stehen lasse, das sei am Ende oft eine Haltungsfrage. Vielleicht lohnt es sich, darüber mal nachzudenken, das nächste Mal im Stau. In Hagnau oder anderswo.