„Es ist sehr schmerzhaft, die eigene Tochter zu verlieren“, sagt die 26-jährige Rachael O. im Gespräch mit dem SÜDKURIER sichtbar betroffen, atmet tief durch und fügt an: „Im August wird es drei Jahre, dass Maria gestorben ist, und ich habe noch immer keine Antwort warum. Ich bin sehr traurig.“

Am 5. August 2021, einen Tag nach einem von der Gemeinde Ebersbach im Landkreis Ravensburg beauftragten Kammerjäger-Einsatz in der Wohnung der dreifachen Mutter Rachael O., starb ihr Baby Maria Anna kurz vor Mitternacht im Krankenhaus – wenige Minuten, bevor sie neun Monate alt geworden wäre.

Maria Anna O. war an den Tagen vor dem Kammerjäger-Einsatz weitgehend gesund.
Maria Anna O. war an den Tagen vor dem Kammerjäger-Einsatz weitgehend gesund. | Bild: Rachael O.

Ein Chefarzt, ein Oberarzt und ein Assistenzarzt des Oberschwabenklinikums Ravensburg hielten in ihrem Bericht fest: „Da am Tag vor Beginn der Symptomatik in der Wohnung der Familie eine Schädlingsbekämpfung mittels einer Mischung aus vier Insektiziden (...) ausgebracht worden war, war nach Rücksprache mit der Toxikologie (eines deutschen Chemiekonzerns, Anm.) und mit der Giftnotrufzentrale Freiburg die Symptomatik am ehesten vereinbar mit einer Intoxikation mit genanntem Insektizid.“

Zusammenhang zwischen Tod und Schädlingsmittel „zweifelhaft“

Die Staatsanwaltschaft Ravensburg gab ein toxikologisches Gutachten beim Landeskriminalamt in Stuttgart in Auftrag, welches ursprünglich nach sechs bis acht Wochen vorliegen sollte. Daraus wurde „ein gutes Jahr“, wie Sprecherin Tanja Vobiller nun einräumte. Die lange Dauer sei insbesondere dem Umstand geschuldet, dass „für die verwendeten Insektizide teils neue Messverfahren entwickelt werden mussten“, so Vobiller.

Doch bis das Ergebnis des Gutachtens kommuniziert werden sollte, verstrich noch einmal mehr als ein Jahr. Es besagt: „Eine kausale Verknüpfung zwischen dem Tod des Kindes und dem in Betracht kommenden Schädlingsbekämpfungsmittel scheint zweifelhaft.“

Entgleisung des Stoffwechsels für Tod verantwortlich?

Sie sei über das Ergebnis nicht informiert worden, sagt Rachael O. „Ich habe keine Informationen bekommen. Die Behörden sagten, sie rufen mich zurück, aber das taten sie nicht“, so die 26-Jährige. Erst im Gespräch mit dem SÜDKURIER habe sie vom Ergebnis und von den folgenden Schritten erfahren.

Racheal O. mit ihrem Baby Maria Anna kurz vor deren Tod – sie wurde nicht einmal neun Monate alt.
Racheal O. mit ihrem Baby Maria Anna kurz vor deren Tod – sie wurde nicht einmal neun Monate alt. | Bild: Rachael O.

„Da auch eine Stoffwechselentgleisung des Kindes im Raum steht, wurde die Rechtsmedizin Ulm mit einer medizinischen Gesamtbetrachtung beauftragt“, teilt Oberstaatsanwältin Christine Weiss auf Anfrage mit. Unter einer „Entgleisung des Stoffwechsels“ wird in der Medizin eine nicht mehr behandelbare Störung des Stoffwechsels bezeichnet. Diese führt dazu, dass schädliche Bestandteile unserer Nahrung, eingenommene Medikamente oder Giftstoffe durch die Leber nicht mehr abgebaut, sondern angehäuft werden.

Eine erste Bewertung der Rechtsmedizin Ulm habe ergeben, dass die vorliegenden Erkenntnisse „nicht typisch“ für eine Entgleisung des Stoffwechsels sind, weshalb ein weiterer Spezialist hinzugezogen wurde. „Möglicherweise ist noch eine genetische Untersuchung erforderlich“, schreibt Weiss. Der Fall bleibt also bis auf Weiteres ungeklärt.

Uni Konstanz half Anwältin von Rachael O.

Gleichzeitig drohte der 26-jährigen Rachael O. und ihren beiden sechs und vier Jahre alten Söhnen die Abschiebung in ihr Herkunftsland Nigeria. Denn das Verwaltungsgericht Sigmaringen verweigerte der kleinen Familie rechtskräftig und unanfechtbar ein Recht auf Asyl, wie diese Redaktion anhand des vorliegenden Urteils ausführlich berichtete.

Racheal O. mit ihren beiden Kindern am Grab ihrer Tochter Maria Anna. Das Mädchen wurde knapp neun Monate alt.
Racheal O. mit ihren beiden Kindern am Grab ihrer Tochter Maria Anna. Das Mädchen wurde knapp neun Monate alt. | Bild: Rachael O.

Daraufhin konnte der SÜDKURIER der Anwältin von Rachael O. einen Kontakt zur Universität Konstanz vermitteln. Dort gibt es ein „Integrationsprojekt für psychisch belastete Geflüchtete“, das deren Anbindung in die psychotherapeutische Regelversorgung im Landkreis Konstanz und darüber hinaus unterstützt. Dabei vermittelt die Uni Konstanz psychisch belastete Geflüchtete in ambulante Psychotherapie, stellt Sprachvermittler sowie Gesundheitspaten zur Verfügung und bietet Fortbildungen für beteiligte Psychotherapeuten an.

„Albträume, Schlafstörungen und Hoffnungslosigkeit“

„Mithilfe eines Gutachtens der Universität Konstanz konnten wir einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) stellen“, sagt Tamara Haug, Rechtsanwältin aus Wangen im Allgäu. Die Begründung: Rachael O. sei psychisch erkrankt.

Rechtsanwältin Tamara Haug vertritt Rachael O. im Asylverfahren. Im Strafverfahren um den Tod der kleinen Maria ist sie nicht involviert.
Rechtsanwältin Tamara Haug vertritt Rachael O. im Asylverfahren. Im Strafverfahren um den Tod der kleinen Maria ist sie nicht involviert. | Bild: Haug

Um dies zu untermauern, hat Haug mehrere Atteste und Diagnosen der Uni Konstanz und des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg beim Bamf eingereicht. Der SÜDKURIER konnte sie mit Zustimmung von Rachael O. einsehen. Daraus geht hervor, dass sie seit dem Tod ihres Babys Maria unter einer depressiven und posttraumatischen Störung leidet, zu der Niedergestimmtheit, Hoffnungslosigkeit, Interessenverlust, sozialer Rückzug sowie Albträume und Schlafstörungen zählen.

Keine Existenzgrundlage in Nigeria

Zudem leidet die Mutter neben der unverarbeiteten Trauer unter ausgeprägten Schuldgefühlen, Angstzuständen und Suizidgedanken. Daher sei sie weiterhin auf psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen angewiesen.

Die Möglichkeiten einer medizinischen Behandlung im Fall einer Abschiebung nach Nigeria seien dort jedoch „unzureichend“. Zudem werde Rachael O. aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht in der Lage sein, eine Existenzgrundlage für sich und ihre beiden Söhne in Nigeria zu erwirtschaften und könne dort auch nicht auf die Hilfe eines familiären Netzwerkes zurückgreifen.

„Bei Rückkehr droht alsbald die Verelendung“

Das Bamf kam zum Schluss: „Bei der Antragstellerin handelt es sich um eine psychisch erkrankte alleinerziehende Mutter, die zwei kleine Kinder zu versorgen hat. (...) Bei einer Rückkehr (nach Nigeria, Anm.) droht der Antragstellerin alsbald die Verelendung.“ Das Bamf sprach daher ein Abschiebungsverbot aus, wodurch Rachael O. und ihre Söhne in Deutschland bleiben dürfen.

Die 26-Jährige zeigt sich darüber erleichtert. „Ich bin glücklich, dass wir in Deutschland bleiben können. Ich weiß nicht, was aus uns in Nigeria geworden wäre“, sagt Rachael O.

Sie lebt seit dem Tod von Baby Maria in Bodnegg und suche aktuell nach einer größeren Wohnung für sich und ihre kleine Familie. Die junge Mutter habe dort zwei Freundinnen gefunden, die ihr viel helfen würden. „Sie sind auf mich über den SÜDKURIER-Artikel aufmerksam geworden“, sagt Rachael O. dankbar.