Kommt doch eine Impfpflicht? Landessozialminister Manfred Lucha (Grüne) will das nicht ausschließen. Zumindest eine berufsbedingte Impfpflicht nicht. Sie stehe derzeit aber nicht „auf der Tagesordnung“, betont der 60-Jährige im SÜDKURIER-Redaktionsgespräch. Damit das so bleibe, müsse sich die Impfbereitschaft der Menschen aber bis zum Herbst erhöhen. Eine Quote, wie viele Menschen in der Pflege geimpft seien, gebe es nicht. Entsprechende Zahlen dürften nicht erhoben werden, so Lucha. Andererseits führte er an, die Quote sei gut, in Krankenhäusern sogar sehr gut.
In der Bevölkerung steigt die Impfquote zwar – ob sie aber die für die Herdenimmunität reicht, die Experten des Robert-Koch-Instituts auf 85 bis 90 Prozent festlegten, ist ungewiss. Gerade hat Baden-Württemberg immerhin die 60-Prozent-Impfquote bei Erstimpfungen erreicht, doch erst 53,5 Prozent der Baden-Württemberger sind vollständig geimpft. Bei den über 80-Jährigen sind zwar inzwischen 79,8 Prozent vollständig geimpft, bei der größten Bevölkerungsgruppe der 18-bis-79-Jährigen sind es allerdings nur 55,7 Prozent.
Impfpflicht nicht ausgeschlossen
Sollten die Infektionszahlen wieder stark steigen und das Gesundheitssystem stärker belastet werden, werde die Diskussion einer Impfpflicht wieder aufkommen, glaubt Lucha. Trotzdem gibt er sich überzeugt: „Eine Siebenerzahl werden wir schaffen“ und meint eine Impfquote von über 70 Prozent – „spätestens wenn der Test Geld kostet“. Noch in diesem Jahr sollen demnach die kostenlosen Bürgertests abgeschafft werden. Wann genau, darauf will sich Lucha noch nicht festlegen lassen. Die Preise werde der Markt vorgeben, so Lucha.
Die Quote erhöhen sollen aber auch Impfungen von Kindern ab zwölf Jahren. Derzeit sind bei den Zwölf-bis-17-Jährigen 13,6 Prozent vollständig geimpft. Das dürfte vor allem an der entsprechenden Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) liegen, wonach lediglich Kinder und Jugendliche mit erhöhtem Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf im Falle einer Covid-Infektion geimpft werden sollen. Gleichzeitig schließt die Stiko nicht aus, dass auch gesunde Kinder nach ärztlicher Aufklärung und auf eigenen Wunsch eine Impfung bekommen können.
Ärzteschaft uneinig zu Impfungen von Kindern
Baden-Württemberg bietet über die Sommerferien „Familienimpfwochenenden“ in vielen Impfzentren an, Lucha spricht sich klar für Impfungen von Kindern aus. Nach dem jüngsten Beschluss der Runde der Landesgesundheitsminister wird dies nun bundesweit ermöglicht. Lucha fordert deshalb eine entsprechende Empfehlung von der Stiko. Zudem warnt er vor den Folgen einer Erkrankung, verweist auf Studien aus den USA und Kanada, wonach erste Hinweise auf Langzeitfolgen bei sechs bis sieben Prozent der erkrankten Kinder und Jugendlichen vorliegen. „Kinder vertragen die Impfung gut, es gibt keine signifikanten Nebenwirkungen“, betont Lucha. Die Stiko will weitere Daten abwarten, eine überarbeitete Empfehlung soll im Laufe des August folgen.
Dabei spricht sich auch der Vorstand des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, dafür aus: „Die Eltern brauchen eine klare Perspektive, wie es weitergeht und ob sie ihr Kind impfen lassen sollen“, sagte er in einem Interview: „Es gibt inzwischen zahlreiche Studien, die die Impfung positiv bewerten.“
Dagegen sieht der Hausärzteverband den Vorstoß kritisch. Weshalb die neue Empfehlung der Stiko nicht abgewartet werde, sei ihm „schleierhaft“, sagte der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbands, Ulrich Weigeldt. Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank-Ulrich Montgomery, geht noch weiter: „Ich glaube, die Politik versucht hier davon abzulenken, dass es ihr nicht gelingt, die Impfangebote an die 18- bis 59-Jährigen heranzubringen.“
Schulschließungen soll es nicht mehr geben müssen
Lucha verteidigt sein Drängen auf Kinderimpfungen mit dem Argument des Eigenschutzes der Kinder. Studien, wonach Kinder meist einen milden Krankheitsverlauf hätten, seien veraltet, die neuen Varianten aggressiver. Und Schulschließungen will Lucha unter allen Umständen vermeiden. Waren sie in der Vergangenheit ein Fehler? „Im Nachhinein ist man immer klüger“, gibt er zu. In einer kritischen Phase der Pandemie hätten die Schulschließungen aber immerhin einen weiteren Anstieg der Infektionen verhindert.
„Ich habe daraus gelernt, dass wir jetzt alles dafür tun müssen, um sie in Zukunft wenn irgend möglich zu vermeiden.“ Nach den Sommerferien soll in den baden-württembergischen Schulen 14 Tage die Maskenpflicht gelten, zudem werde getestet. Anders als zum vergangenen Schuljahresbeginn gebe es ein klares Konzept, betonte der Minister. Das vorherige Chaos schiebt er der ausgeschiedenen CDU-Kultusministerin Susanne Eisenmann zu.

Mit den neuen Vorschriften für Reiserückkehrer, wonach jeder Einreisende einen Nachweis über Impfung, Genesung oder negativen Test vorweisen muss, soll verhindern, dass Infektionen unbemerkt bleiben. Wer aus Virusvariantengebieten zurückkehrt, muss einen negativen Test vorweisen. Doch trotz aller Vorkehrungen könnte bei steigenden Infektionszahlen ein neuer Lockdown drohen.
Ausschließen kann Lucha ihn jedenfalls nicht, sagt aber auch: „Einen Lockdown trägt keiner mehr mit, das kann keine Antwort sein.“ Stattdessen sollen Geimpfte und Genesene wieder mehr Freiheiten bekommen, die Solidarität der Bürger dürfe nicht weiter belastet werden. Mitte September will die Landesregierung eine neue Verordnung auf den Weg bringen. Dann werde es einen „Paradigmenwechsel“ geben, kündigte der Minister an.
Drittimpfungen für Hochbetagte und Empfänger von Vektorimpfstoffen
Im September sollen nach dem jüngsten Beschluss der Runde der Landesgesundheitsminister auch Drittimpfungen für Menschen in Pflegeeinrichtungen sowie Patienten mit Immunschwäche beginnen. Möglich sein soll dies frühestens sechs Monate nach der letzten Impfung.
Eine entsprechende Empfehlung für Auffrischungsimpfung seitens der Stiko gibt es bislang allerdings nicht. Zudem arbeitet die Pharmaindustrie an neuen Impfstoffen, die wirksamer gegen die Virusvarianten sein sollen. Die geplante Drittimpfung soll aber mit den bisherigen Impfstoffen durchgeführt werden.

Die Deutsche Stiftung Patientenbund warnt: „Es steht zu befürchten, dass Bund und Länder die Planung für die wichtige Auffrischungskampagne verschlafen“, so Vorstand Eugen Brysch. Lucha verteidigt sich gegen solche Vorwürfe. Die Impfzentren und deren mobile Impfteams könnten im September noch genutzt werden, im Anschluss übernähmen die Hausärzte.
Auch Bürger, die vollständig mit Vektorimpfstoffen wie Astrazeneca oder Johnson&Johnson geimpft sind, ab September eine Drittimpfung bekommen können. Ein neues Impfterminchaos soll es aber nicht geben: „Die Daten sind alle da, das ist überhaupt keine Arbeit“, betont Lucha. Demnach sollen die Patienten schriftlich informiert werden.