Seinen Platz in den Geschichtsbüchern hat Cem Özdemir (Grüne) bereits sicher. Er war erster Bundestagsabgeordneter mit türkischen Eltern, ist erster Bundesminister mit solchen Wurzeln. Das Schild der ehemaligen Bad Uracher Änderungsschneiderei seiner Mutter befindet sich im Haus der Geschichte Baden-Württembergs, zusammen mit einer Schere und dem Wollmantel seines Vaters. Nächste Woche wird Özdemir in Bad Urach zum Ehrenbürger ernannt.
„Ich war mal nach einer Wanderung zum Umziehen bei Cem in der Nähstube seiner Mutter“, berichtet Özdemirs früherer Büroleiter, der Esslinger Bundestagsabgeordnete Sebastian Schäfer (Grüne). „Da habe ich erst verstanden, wie wenig selbstverständlich dieser Weg war, wie weit und wie schwierig.“
In der Grundschule eine Fünf in Deutsch
Özdemir ist als Sohn eines türkischen Gastarbeiterpaares aufgewachsen. Seine Tageseltern badeten ihn im selben Wasser wie zuvor sich selbst. Er hatte in der vierten Klasse in Deutsch eine Fünf, aber auch „ganz, ganz großartige Menschen“ als Lehrer, wie er sagt. An der Realschule, wo er erst Klassen-, dann Schülersprecher war, riet er der früheren Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) bei einem Schulbesuch, sie könne ja mal was schaffen. Später arbeitete er im Bundestag mit ihr zusammen.

Özdemir erzählt solche Anekdoten heute jungen Menschen: Sie zeigen, was möglich ist, wenn man ihnen Perspektiven eröffnet. Mit 15 trat Özdemir bei den Grünen ein, mit 16 beantragte er die deutsche Staatsbürgerschaft.
Das beste Pferd der Grünen
Mit 58 Jahren greift der „anatolische Schwabe“ (Selbstbeschreibung) nun nach seiner bislang größten eigenen Chance: Die Spitzenkandidatur der Ökopartei bei der Landtagswahl 2026 soll ihn zurück in sein Bundesland führen und dort ganz nach oben. Seit Monaten galt als sicher, dass die Südwest-Grünen angesichts des bundesweiten Abwärtstrends ihrer Partei ihr bestes Pferd ins Rennen um die Nachfolge von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) schicken.
Nun hat Özdemir seine Pläne offiziell gemacht. „Ich möchte Ihnen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, als Ministerpräsident von Baden-Württemberg dienen und alles für dieses Land geben“, schreibt er in einem Brief an die Menschen in Baden-Württemberg, der am Freitag veröffentlicht wurde.

Unter Bundespolitikern lagen Özdemirs Beliebtheitswerte zuletzt je nach Umfrage an sechster oder siebter Stelle, noch vor denen seiner Partei- und Ministerkollegen Robert Habeck und Annalena Baerbock. Bei der Bundestagswahl 2021 holte Özdemir für die Grünen erstmals das Direktmandat im Wahlkreis Stuttgart I – mit dem bundesweit besten Erststimmenergebnis seiner Partei.
Fan von „Schwoißfuaß“ und von Streichen
Der gelernte Erzieher und spätere Diplom-Sozialpädagoge hat heute den Ruf eines ausgezeichneten Redners, im Bundestag, vor Wirtschaftsvertretern und bei der Schillergesellschaft genauso wie im Bierzelt oder auf Bauerndemonstrationen. Ein solches Spektrum beherrschen nicht viele. Öffentlich pflegt der schwäbelnde Fan der früheren Kultband „Schwoißfuaß“ ein bodenständiges Image.
Intern ist er für sein Faible für Streiche berüchtigt. Auch Baden-Württembergs heutiger Finanzminister Danyal Bayaz (Grüne) hat bei einer Rede im Bundestag schon ein Ei aus dem Sakko gefischt, nachdem er mit Özdemir gefrühstückt hatte. Dass er Humor hat, bewies Özdemir auch schon bei Auftritten beim Stockacher Narrengericht.

In der eigenen Partei war der Bad Uracher nicht immer populär, mancher fand ihn arrogant. Aber er bewies früh Nehmerqualitäten – Özdemir war in seiner Jugend Handballtorwart. „Ich hab den Ball so oft in die Fresse bekommen, meine Mitarbeiter haben früher immer gesagt: Das erklärt bei dir manches“, hat er im Frühjahr vor Schülern erklärt. Sein Aufstieg kannte auch Brüche.
Abgestürzt und wieder aufgestiegen
2002 trat Özdemir als innenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion zurück, nachdem bekannt geworden war, dass er einen Privatkredit von einem PR-Berater angenommen und dienstlich erworbene Bonusmeilen privat genutzt hatte. Er wurde erneut in die Volksvertretung gewählt, verzichtete aber auf das Mandat.
Die Erfahrung dürfte ihn auch deshalb geschmerzt haben, weil im selben Jahr öffentlich wurde, dass der Co-Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Rezzo Schlauch, der Özdemir für seine Affäre gerügt hatte, selbst dienstlich erworbene Meilen für seinen Urlaub verwendet hatte. Statt wie Özdemir politisch zu stolpern, wurde Schlauch aber noch 2002 Parlamentarischer Staatssekretär.
Beim Landesparteitag 2008 noch gedemütigt
Nach einem USA-Aufenthalt gelang Özdemir 2004 ein Neuanfang als Mitglied des Europäischen Parlaments. Er blieb es bis 2009 und erarbeitete sich in dieser Zeit ein Profil als außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion. Beim baden-württembergischen Landesparteitag 2008 demütigte ihn sein eigener Landesverband dennoch und verweigerte ihm einen sicheren Listenplatz für die nächste Bundestagswahl. Özdemir verpasste den Wiedereinzug ins deutsche Parlament. Ein weiterer Tiefpunkt.
Trotzdem wurde er 2008 zusammen mit Claudia Roth zum Führungsduo der Bundes-Grünen bestellt und blieb bis 2018 an der Parteispitze. Bis heute ist er damit der am längsten amtierende Grünen-Bundesvorsitzende. Der Konflikt des Realos mit der späteren linken Co-Vorsitzenden Simone Peter wurde allerdings teils offen ausgetragen. 2013 zog er auf dem zweiten Platz der Landesliste wieder in den Bundestag ein – und wurde Vorsitzender des Verkehrsausschusses. 2019 scheiterte er dafür mit einer Kampfkandidatur um den Fraktionsvorsitz im Bundestag.

2021 lief es dann besser. Nach seinem Traumergebnis in Stuttgart spielte Özdemir bei den Koalitionsverhandlungen zur neuen Ampelregierung unter Olaf Scholz (SPD) eine zentrale Rolle. Als es mit seinem Lebenstraum vom Außenministerium nichts wurde, musste er aber erneut unbekanntes Terrain betreten: Der Vegetarier übernahm das Agrarministerium.
Seine größten Stärken: deeskalieren, sachlich bleiben
Statt staatstragender Innen- oder Außenpolitik beschäftigten ihn nun Aktionen wie „Torffrei gärtnern – jeder Blumentopf zählt“. Das Gesetz zur Verbesserung der Tierhaltung in den Ställen zählt er zu seinen größten Erfolgen. Mit den Bauernprotesten des vergangenen Winters hatte er seine womöglich härteste Bewährungsprobe zu bestehen. Zwischen teils aggressiven Anfeindungen spielte Özdemir seine wohl größten Stärken aus: deeskalieren, sachlich bleiben, einbinden.

„Demokratie bedeutet ja nicht, dass wir stets einer Meinung sind“, hat er diesen Sommer im Bundestag erklärt. „Vielmehr bedeutet Demokratie, dass wir Meinungsverschiedenheiten friedlich mit Argumenten lösen und nach Möglichkeit gute Kompromisse finden.“
Ein Stil wie Kretschmann oder Habeck
Das entspricht nicht unbedingt der dominierenden Tonalität im politischen Raum. Aber – so die Hoffnung vieler Realo-Grüner – womöglich doch einer stillen Mehrheit im Land. Es ist ein Stil, der Özdemir mit Winfried Kretschmann und Robert Habeck verbindet.
Wenn es um seine Partei und die Ampel-Regierung im Bund geht, ist Özdemir nicht um Selbstironie verlegen. „Mir fällt auch kein Zacken aus der Krone zu sagen, bei der Frage Rente mit 69 hat die FDP jetzt nicht vollständig Unrecht.“ Gleichzeitig beansprucht er, in seinem Bereich das größte Entlastungspaket aller Zeiten auf den Weg gebracht zu haben. „Vergleichen Sie das mal mit den 16 Jahren davor.“

Meist sitzen solche Spitzen wirkungsvoller als die politische Keule. In der Auseinandersetzung mit der AfD kann Özdemir deutlich werden. „Die gehören schon auch dazu, die wurden ja gewählt“, sagt er dennoch, wenn er nach den Rechtspopulisten gefragt wird. Problematisch sei ihr „Alleinvertretungsanspruch“ bei der Definition von Begriffen wie Volk. „Das geben doch die Umfragen gar nicht her“, sagt Özdemir dann. „Ich hab in Stuttgart 40 Prozent, also irgendwie gehör ich auch zum Volk.“
Vorteil seiner Biografie: klare Aussagen zum Thema Asyl
Das ist die Grundbotschaft seines politischen Lebens. 1992 zählte er zu den Mitbegründern von „Immi-Grün – Bündnis der neuen InländerInnen“. 1997 veröffentlichte er seine Biografie unter dem Titel „Ich bin Inländer“.
„Ich bin deutscher Staatsbürger türkischer Herkunft“, heißt es darin. „Das Schwäbische ist mir noch näher als das Deutsche, und mit der türkischen Herkunft ist es ebenfalls so einfach nicht.“ Auch „Einwanderer“ treffe den Kern nicht. „Ich bin zwar gut zu Fuß, aber ich bin nie eingewandert, sondern hier geboren.“
2018 zählte Özdemir zu den Gründern der „Initiative säkularer Islam“. Zeit seiner Karriere hat er entschieden vor den Gefahren eines politischen Islamismus gewarnt. Im September dieses Jahres forderte der Vater einer Tochter und eines Sohns in einem viel beachteten Zeitungsbeitrag eine klare Trennung zwischen Asyl und Arbeitsmigration sowie eine Verschärfung der Abschiebepraxis. Mit seiner Biografie war Özdemir ideal positioniert für einen solchen Vorstoß. In der eigenen Partei sorgte das teilweise für Empörung, außerhalb festigte es seinen Ruf als Realpolitiker in der Tradition Kretschmanns.
Trennung von seiner Frau, neue Partnerin an seiner Seite
In den kommenden Monaten wird er bemüht sein, dieses Image mit einer Botschaft von Aufbruch und frischem Wind zu verbinden. Neun Monate nach der Bekanntgabe der Trennung von seiner langjährigen Ehefrau hat er im Sommer eine neue Beziehung zu einer kanadischen Juristin bekannt gegeben und damit auch privat klare Verhältnisse geschaffen.

Dass er sich in neue Inhalte einarbeiten und Menschen zusammenbringen kann, hat Özdemir längst bewiesen. Gegenüber seinem mutmaßlichen Hauptkonkurrenten Manuel Hagel von der CDU hat er den Vorteil des bekannteren Namens und größerer Erfahrung. Ob er neben Begeisterung für die großen Fragen der Welt auch genügend Interesse für die Niederungen der Landespolitik mitbringt, sei vorerst dahingestellt. Ganz zu schweigen von der Entwicklung der Stimmung im Bund – gegen politische Großwetterlagen hilft auch vermeintliche Star-Qualität nur bedingt.