„Herr Palmer, dürfen wir uns bei Ihnen bedanken?“ Die beiden älteren Damen, die den Tübinger Oberbürgermeister auf dem Marktplatz ansprechen, sind extra aus Filderstadt gekommen – um „mal wieder etwas zu erleben“. Man kann das Freudestrahlen hinter den Masken erahnen. Es ist nicht das einzige Mal in dieser halben Stunde auf dem Marktplatz am Donnerstagnachmittag, dass Boris Palmer auf diese Weise angesprochen wird. Der Grüne lächelt und bedankt sich. Ganz geheuer scheint ihm seine Beliebtheit nicht zu sein.

Vanessa (links) und Cynthia aus Reutlingen stehen bei den Tests an.
Vanessa (links) und Cynthia aus Reutlingen stehen bei den Tests an. | Bild: Angelika Wohlfrom

Etwas erleben wollen auch Vanessa (20) und Cynthia (18) aus Reutlingen. In diesen Zeiten kann das eben schon bedeuten, mal wieder einen Kaffee trinken zu gehen, wie es die beiden Freundinnen vorhaben. Nur in der Außengastronomie, aber immerhin. Die Universitätsstadt bietet seit wenigen Tagen das, was sonst praktisch nirgends in Deutschland möglich ist: neben den Cafés und den Kneipen dürfen seit Dienstag auch Museen, Kinos und Theater ihre lange verschlossenen Pforten öffnen.

Ist eine Rückkehr zur Normalität möglich?

Während die restliche Republik bang in Richtung dritter Lockdown blickt, wird in der hübschen Studentenstadt am Neckar gelockert. Die Voraussetzungen sind gut. Als einer von fünf Kreisen in Baden-Württemberg bewegte sich der Landkreis Tübingen bis Mittwoch noch unter der 50er-Inzidenz. Am Donnerstag ist man bei 52,9 angelangt. Vor allem aber wird massenhaft getestet, um nicht die Kontrolle zu verlieren über die Ansteckungen. Letzteres ist der Grund, weshalb Boris Palmer und die Tübinger Notärztin Lisa Federle vom Land ihren dreiwöchigen Modellversuch genehmigt bekommen haben. Die Aufgabenstellung lautet in etwa: Schauen, ob man mit dem Einsatz von sehr vielen Tests die Rückkehr zu etwas mehr Normalität erlauben kann – oder ob die Infektionszahlen bei offener Außengastronomie, Theatern und Kinos sofort nach oben schnellen.

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Wissenschaftlich begleitet wird das Ganze von Peter Kremsner vom Tropeninstitut der Uni Tübingen. Der Infektiologe, der die klinischen Studien zum Corona-Impfstoffkandidaten der Tübinger Firma Curevac leitet, will die Werte genau im Blick behalten. Kremsner steht hinter der Teststrategie. „Wir müssen testen, testen, testen“, sagt er seit langem – doch hängt Deutschland hinter anderen Ländern wie Dänemark oder Österreich weit zurück. Dass in Tübingen durch ausgiebigeres Testen bereits seit einiger Zeit mehr Cluster erkannt werden, kann Hoffnung machen. Doch wie es ausgeht, kann man noch nicht abschätzen.

Röhrchen mit benutztem Teststäbchen.
Röhrchen mit benutztem Teststäbchen. | Bild: Angelika Wohlfrom

Das ist das Risiko, dem der Tübinger OB sich aussetzt. Es könnte auch schiefgehen. Und dann wird sich keiner mehr freudestrahlend bedanken beim Rathauschef. Wie aggressiv die Stimmung werden kann, weiß Palmer. Der Grüne, der dafür bekannt ist, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, hatte zu Beginn der Coronakrise mit einem Satz in einem Interview für Furore gesorgt: „Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“, sagte Palmer im Sat-1-Frühstücksfernsehen. Was folgte war in Shitstorm sondersgleichen. Die Grünen kündigten ihm die Unterstützung auf. „Ein falscher Satz in einem sechsminütigem Interview – und man wird mit Morddrohungen überschüttet“, sagt Palmer rückblickend.

Die Ärztin Ariane Feurer hilft ehrenamtlich beim Testen.
Die Ärztin Ariane Feurer hilft ehrenamtlich beim Testen. | Bild: Angelika Wohlfrom

Seit ein paar Tagen bekomme nun er Mails von Leuten, die sich dafür entschuldigen, dass sie im vergangenen Frühjahr so über ihn hergefallen sind. Das dürfte daran liegen, dass der 48-Jährige einiges richtig gemacht hat in der Coronakrise. Seit Monaten gibt es in Tübingen eine Teststrategie, Altenheime wurden auf diese Weise konsequent geschützt – während genau das in der restlichen Republik schmählich vernachlässigt wurde. Allmählich dämmert es vielen, dass Palmer mit seinem Ansatz, die vulnerablen Gruppen zu schützen, zu testen und zu lockern, vielleicht doch nicht so falsch lag.

Tübingen stand schon einmal Modell

Vor Weihnachten machte die Tübinger Teststrategie, auf die Beine gestellt von der Notärztin Lisa Federle, im ganzen Land Schule: Mit kostenlosen Schnelltests wurde Bürgern der relativ sorgenfreie Besuch bei älteren Angehörigen erleichtert. Heute schaut die halbe Republik nach Tübingen – und will wissen, ob dieser Modellversuch wohl zur Nachahmung taugt. Kamerateams wandern durch die malerische Altstadt, Theaterintendanten und Kinobetreiber erhalten Anrufe von Kollegen aus ganz Deutschland.

„Bei uns wird geplant, es werden Vorschriften erarbeitet und Zuständigkeiten geregelt – aber das dauert und funktioniert nicht, wenn das Virus alle drei Tage eine neue Lage erzeugt.“
Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen

Was Palmer möchte, ist zu zeigen, dass es nach einem Jahr Pandemie Alternativen geben muss zu weiteren Lockdowns. Aber kontrolliert: „Ich fand Lockerung ohne Testung immer falsch“, sagt der Grüne. Das, woran die Corona-Strategie in Deutschland krankt, ist nach Palmers Ansicht ausgerechnet eine Qualität, wofür wir in aller Welt bewundert wurden: Unsere Fähigkeit, alles generalstabsmäßig zu planen und durchzuführen, fällt uns jetzt auf die Füße. „Bei uns wird geplant, es werden Vorschriften erarbeitet und Zuständigkeiten geregelt – aber das dauert und funktioniert nicht, wenn das Virus alle drei Tage eine neue Lage erzeugt“, lautet Palmers Analyse. Während sich Amerikaner und Briten nach dem Prinzip „Trial and error“ (Versuch und Irrtum) erfolgreich durchwursteln, werde bei uns erstmal die Bundesdruckerei mit fälschungssicheren Maskengutscheinen beauftragt, so dass drei Monate später noch immer nicht alle über 60-Jährigen mit kostenlosen Masken versorgt sind. In Tübingen hat man auch das selbst in die Hand genommen.

Studenten Peter Collet (von links) und Gideon Abele vor dem Schwarzen Schaf.
Studenten Peter Collet (von links) und Gideon Abele vor dem Schwarzen Schaf. | Bild: Angelika Wohlfrom

„Nicht fragen, sondern machen“, lautet Palmers Motto. Natürlich hat er auch die Schnelltests selbst aufgetrieben. Die Schwierigkeit sei nicht gewesen, an diese ranzukommen, sondern das nötige Kleingeld lockerzumachen. In diesem Fall sprang ein Tübinger Unternehmer für die Stadt ein und streckte die 1,5 Millionen Euro für die 350.000 Masken vor. Am Ende soll die Sache dem Bund in Rechnung gestellt werden.

So sieht das Tübinger Tagesticket aus. Frisch getestet, öffnet es die Türen in Tübingens Altstadt.
So sieht das Tübinger Tagesticket aus. Frisch getestet, öffnet es die Türen in Tübingens Altstadt. | Bild: Angelika Wohlfrom

Auf dem Tübinger Marktplatz stehen die Leute Schlange. Sechs Teststationen, betrieben von DRK und zwei Firmen, gibt es über die Stadt verteilt, seit Freitag sogar acht. Etwa 6000 Tests werden hier täglich vorgenommen. Auch Ehrenamtliche, wie die Ärztin Ariane Feurer, helfen mit, weil sie das Projekt unterstützen wollen. Das Anstehen dauert mal kürzer, mal länger. Im günstigsten Fall ist man nach 20 Minuten durch und bekommt sein Tübinger Tagesticket ausgehändigt, das man in Kneipen, Bibliotheken, Kinos und so weiter parat haben muss.

Nicht alle Kunden sind begeistert

Auch in den Läden muss man den Zettel vorzeigen, was nicht überall gut ankommt. Wäre doch – angesichts der Inzidenz – noch ganz normales Einkaufen möglich. Barbara Rongen, Inhaberin eines Modegeschäfts und Mitglied im Vorstand des örtlichen Handels- und Gewerbevereins, kennt die Beschwerden – von Kunden, aber auch von Kollegen, die nun jeden auf ein gültiges Tagesticket kontrollieren sollen. Auch von habhaften wirtschaftlichen Auswirkungen berichtet die 44-Jährige.

Während sie in der ersten Woche der Lockerungen einen „Wahnsinnsumsatz“ gemacht habe, sei das Geschäft seit Einführung der Pflichttests merklich eingebrochen. „Jemand, der halt bloß eine Unterhose kaufen will, für den lohnt sich so ein Test nicht“, sagt Rongen. Auch manches Ungleichgewicht stößt den Händlern sauer auf: Weil Buch- und Blumenläden schon vorher geöffnet waren, sind sie beim Modellversuch außen vor. Ungerecht, findet nicht nur Rongen, die abgesehen davon aber „sehr stolz“ darauf ist, „dass Lisa Federle und der OB das durchgeboxt haben“.

Barbara Rongen in ihrem Modegeschäft
Barbara Rongen in ihrem Modegeschäft | Bild: Angelika Wohlfrom

Geradezu euphorisch über die Tübinger Offensive ist man im Zimmertheater Tübingen. Als vor gut einer Woche die Stadtverwaltung bei ihnen anklopfte und mit der Bitte um Verschwiegenheit vorwarnte, dass möglicherweise bald wieder Theaterspielen möglich sei, war für Dieter und Peer Ripberger, die das Theater gemeinsam leiten, alles klar: „Wir wollen spielen.“

Die Vorstellungen sind praktisch ausgebucht

Weil innerhalb von ein paar Tagen kein Theaterstück bühnenreif war, engagierten sie kurzerhand ein fremdes Ensemble. Nach einjähriger Zwangspause, mit kurzer Unterbrechung im Herbst, sollte jede Gelegenheit ergriffen werden, finden die beiden.

Dieter (links) und Peer Ripberger leiten das Tübinger Zimmertheater.
Dieter (links) und Peer Ripberger leiten das Tübinger Zimmertheater. | Bild: Angelika Wohlfrom

Im Zimmertheater selbst, mit seiner sechs Meter großen Bühne, wäre das aufgrund der Corona-Abstandsregeln praktisch unmöglich gewesen. Zum Glück hatte das Team den ersten Lockdown und die Fördergelder des Bundes dafür verwendet, den Löwen, ein ehemaliges Kino, umzubauen. Hier ist eigentlich Platz für 120 Zuschauer – in Corona-Zeiten passen, je nach Zusammensetzung, zwischen 30 und 50 Menschen in die Zuschauerränge. Und die sind für die nächsten Tage so gut wie ausgebucht.

„Da muss man den Palmer doch mal loben“

Theaterstühle und Kinosessel – lange Zeit blieben sie unbesetzt. Im Kino Atelier am Haagtor ist am Donnerstagnachmittag putzen angesagt. Am Wochenende wollen sie hier aufmachen. Kinoleiter Dieter Betz hat dafür vier aktuelle Arthouse-Filme aufgetrieben, teilweise werden sie noch im Preview gezeigt. Die Filmverleiher sind großzügig dieser Tage.

Kinoleiter Dieter Betz hat schon mal Platz genommen im Atelier.
Kinoleiter Dieter Betz hat schon mal Platz genommen im Atelier. | Bild: Angelika Wohlfrom

Ob aus der Öffnung ein gutes Geschäft wird, bezweifelt Betz zwar. Nach gerade erst angekommenen November- und Dezemberhilfen könnte man das gut gebrauchen. Aber ihn freut, dass überhaupt mal wieder etwas anderes möglich ist als Streamen. „Da muss man den Palmer doch mal loben“, sagt er und schmunzelt. Die Corona-Auflagen sind natürlich auch hier einzuhalten: Abstand, Maske und Lüften im Kinosaal. Und die Tests müssen sie, wie es aussieht, am Sonntag auch selbst organisieren. Da an diesem Tag nur ein paar Stunden am Marktplatz getestet wird. Aber Betz hat da schon eine Idee. Nicht fragen, sondern machen, heißt es auch hier.

Hilde Butscher vor dem Café Hirsch
Hilde Butscher vor dem Café Hirsch | Bild: Angelika Wohlfrom

Vor dem Café Hirsch genießt Hilde Butscher den Geschmack der Freiheit in Form eines Bircher Müsli. Jenseits vom aufgespannten Sonnenschirm herrscht Schneetreiben. Doch die Gammertingerin, die beruflich in der Stadt war, lächelt entspannt. Sie hat sich etwas gegönnt, mal wieder ins Café sitzen. „Das sind so Sehnsüchte“, sagt sie und lacht. „Egal wie kalt es ist.“