An den Ufern des Bodensees wurden schon Tausende Sorgen vergessen. Wenig ist so beruhigend wie der Blick auf diesen Riesenteich, der schon ewig ist und noch ewig sein wird. Wenn man von den richtigen Stellen auf ihn schaut, scheint der See an manchen Tagen keinen Anfang und kein Ende zu haben.
Vielleicht liegt es ja an dieser Schein-Unendlichkeit, dass der Bodensee immer mehr leisten soll. Der Durst auf sein Wasser wächst, ob in Bayern und Schwaben. Per Seethermie soll seine Wärme die Klimawende retten. Er soll und wird immer mehr Touristen locken. Konstanz will Nahverkehr auf den See verlagern, gleichzeitig entsteht im Markelfinger Winkel ein Naturschutzgebiet, auf der Höri ist Windkraft geplant.
Die Schifffahrt auf dem See soll bis 2040 klimaneutral sein, wie auch immer das bis dahin gelingen soll. Den Fischern wird teilweise das Fischen verboten, der Kormoran bleibt unangetastet. Invasive Arten und Klimaerhitzung fordern das Ökosystem See ohnehin. Ziemlich viel für so ein gemütliches Gewässer.
Und damit hört es ja nicht mal auf: Rechts und links des Sees werden für den Autoverkehr dutzende Meter breite Schneisen in die Landschaft geschlagen, um milliardenteure Straßen zu bauen.
Währenddessen verläuft mit der Bodenseegürtelbahn eine Strecke auf dem Stand von vorgestern durch die Region, die wichtige Zubringerverbindung Gäubahn wird noch jahrzehntelang in einer weitgehenden Einspurigkeit verharren. An den Seeufern, besonders in Konstanz, entsteht ein Hotel nach dem anderen, der Tourismus wird scheinbar ungebremst angekurbelt.
Fast allen Eingriffen in Natur und See ist eines gemein: Sie sollen immer nur „minimale Auswirkungen“ auf die Umwelt haben, sagen die Verantwortlichen. Oft haben sie vielleicht sogar recht – aber viele minimale Auswirkungen ergeben doch eine große Auswirkung.
Was soll der See sein?
Umso dringlicher stellt sich die Frage: Was soll der See eigentlich sein? Freizeitraum für Touristen oder Paradies für Einheimische? Wasser- und Energiespender oder unberührte Natur? Ein bisschen erinnert der Umgang mit dem Bodensee an die Bundespolitik der letzten Jahre: Viele Einzelprojekte, aber man fragt sich, wo das zusammengenommen alles hinführen soll.
Jetzt hätte das Land Baden-Württemberg die Chance, exakt darüber ein klares Zielbild zu entwerfen. Ein Jahr lang leitet der Südwesten die Internationale Bodenseekonferenz, dieses ziemlich einzigartige Konstrukt aus allen Anrainerregionen. Zur Steuerrad-Übernahme gab es viele Einzelthemen zu hören und nicht allzu viel an konkreten Projekten.
Dabei kann die Initiative zu einer gemeinsamen Bodensee-Vision nur von Baden-Württemberg ausgehen. Bayern und Vorarlberg haben nur geringe Uferanteile und teilen damit viele Sorgen gar nicht, in der Schweiz ist die Lage eine andere. Das Gegenstück zum Ludwigsburger, der den Rasen seines Doppelhauses mit Bodensee-Wasser wässert und am Wochenende mit dem Camper auf die Reichenau fährt, gibt es dort so nicht.
In der seenreichen Schweiz, wo sich die Blicke auch recht bald hinter der Grenze auf die Wirtschaftsmetropole Zürich richten, hat der Bodensee bei weitem nicht diese Strahlkraft, ist auch touristisch weitaus unbedeutender.
Überhaupt schafft die Schweiz im Bodensee-Umfeld eher Fakten, als dass sie zaudert: Am Rheinfall soll ein weiteres Wasserkraftwerk entstehen, etwas weiter flussabwärts gleich das Atomendlager. Und dass künftig eher mehr als weniger Flugzeuge über die Region Richtung Zürich-Kloten donnern werden, ist auch jedem klar.
Man darf gespannt sein, ob die Landesregierung in ihrer Zeit als Bodenseekonferenz-Chefin ein einheitliches Zielbild für den Bodensee entwickelt. Vielleicht entdecken Manuel Hagel oder Cem Özdemir ja auch den Bodensee als Landeswahlkampf-Thema.
Seine Bedeutung ist dabei in jeder Hinsicht um ein Vielfaches höher als die des kleinen Stückchens Nationalparks im Nordschwarzwald, um das sich die Stuttgarter Politik so gern streitet.