Was für Dietmar Scherer von Corona übrig blieb, sind drei Prozent Sehkraft, wahrscheinlich weniger. Das Virus war gerade eineinhalb Jahre alt, da erblindete er auf einem Auge fast ganz. Kurz zuvor hatte sich der Mann aus dem Kreis Tuttlingen das zweite Mal gegen Corona impfen lassen.

Während für die meisten das Leben nach der Pandemie einfach weiterging, ist seines stehen geblieben – und dafür klagt er gegen Biontech auf 150.000 Euro Schmerzensgeld.

Ein Mann wird gegen Corona geimpft. In Deutschland klagen mittlerweile immer mehr Menschen gegen die Hersteller von ...
Ein Mann wird gegen Corona geimpft. In Deutschland klagen mittlerweile immer mehr Menschen gegen die Hersteller von Covid-19-Impfstoffen, weil sie einen Impfschaden bei sich vermuten. | Bild: Marijan Murat/dpa

Scherer, 58, sitzt auf der Terrasse unterm Pavillon, Einfamilienhaus im Grünen. Der Ingenieur im Polohemd, gemütlicher Körperbau, ist keiner, der zögert, wenn irgendetwas nicht so läuft, wie er es sich vorgestellt hat. Er ist einer, der macht. Und einer, der sich wehrt, wenn er sich unfair behandelt fühlt.

„Die Betroffenen kämpfen brutalst alleine.“ Scherer meint die Menschen, die nach den Impfungen mit Covid-19-Vakzinen krank geworden sind. Er zählt sich dazu. Seinen Kampf gegen Biontech, den Pharma-Riesen, den führt er auch für sie.

Mehr als 350 von ihnen haben inzwischen Begehren angestrengt, gegen die großen Player der Pandemie, Moderna, AstraZeneca, Johnson & Johnson und Biontech. Gegen den Impfstoffhersteller aus Mainz hat der erste Prozess im Juli vor dem Landgericht in Rottweil begonnen, Aktenzeichen 2 O 325/22.

Es ist der Fall von Dietmar Scherer, der Folgen für so viele weitere haben könnte. Der Kläger weiß das. Wochen nach dem Auftakt erklärt er in seinem Garten, der Sommer versteckt sich hinter Wolken, wie es dazu gekommen ist.

Scherer ließ sich zwei Mal gegen Corona impfen

Scherer muss seine Unterlagen nicht einmal aufschlagen. Was er erlebt hat, hat er schon vielen erzählt. Er sagt: „Die Corona-Impfung habe ich immer befürwortet.“ Er sagt aber auch: „Ich hätte mir damals mehr Aufklärung gewünscht.“ Trotzdem ließ er sich impfen, erst im Mai, so steht es auf den Dokumenten, dann im Juni 2021, immer derselbe Stoff, Comirnaty der alten Generation, immer im Messezentrum von Freiburg.

Scherer sagt, am Tag nach der zweiten Dosis habe er sich seltsam gefühlt. Er hatte bei seiner Schwester in Freiburg übernachtet. An ihrem Frühstückstisch konnte er sich an die einfachsten Dinge nicht mehr erinnern. Damals, Scherer ist Fußballfan, lief gerade die Europameisterschaft im Fernsehen. „Alle Namen der Nationalspieler, ob Kimmich, ob Müller, alle waren weg. Das war merkwürdig und beängstigend.“

Dietmar Scherer (rechts) mit seinem Anwalt Joachim Cäsar-Preller beim Auftakt des Zivilprozesses gegen Biontech in Rottweil.
Dietmar Scherer (rechts) mit seinem Anwalt Joachim Cäsar-Preller beim Auftakt des Zivilprozesses gegen Biontech in Rottweil. | Bild: Moni Marcel

Brainfog nennen das Mediziner, Nebel im Gehirn. Er sei nach Hause gefahren, sagt Scherer, dachte noch, es könnte eine Nebenwirkung der Impfung sein, eine kurze Reaktion, die wieder nachlässt.

Wochen später ist der 58-Jährige auf dem rechten Auge nahezu blind. Nach dem Bericht der Uniklinik Tübingen erlitt der Mann einen Augeninfarkt. Verstopfte Venen seien Schuld daran, dass er auf dieser Seite kaum mehr etwas sehen kann. Scherer ist sich sicher, die Injektion mit dem Biontech-Mittel muss der Grund dafür sein.

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Impfungen nützen zwar, das hat die Pandemie gezeigt. Tatsächlich können sie aber auch schaden. In Deutschland wurden bislang mindestens 192 Millionen Impfdosen gegen Covid-19 verabreicht. Das Paul-Ehrlich-Institut, das in Deutschland die Sicherheit von Impfstoffen überwacht, hat rund 340.300 Verdachtsfälle von Nebenwirkungen oder Impfkomplikationen registriert. In etwa 56.400 Fällen meldeten Ärzte schwerwiegende Nebenwirkungen.

In Einzelfällen verursacht die Impfung bleibende Schäden

Scherer glaubt, er gehört dazu, zu diesen Fällen, die dokumentieren, dass Corona-Schutzimpfungen eben nicht „mehr oder weniger nebenwirkungsfrei“ sind, wie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach noch im Februar 2022 behauptet hatte. Später korrigierte er sich. Inzwischen weiß man, dass etwa 0,02 Prozent der Menschen mit einer Corona-Impfung dauerhafte Beschwerden haben – bis hin zu bleibenden Schäden, so die Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts.

Das vor Gericht nachzuweisen, ist ein juristischer Hochseilakt. Vor diesem Problem steht auch Dietmar Scherer. Die vollständige Beweislast liegt beim Kläger, also bei ihm. Zusammen mit seinem Anwalt Joachim Cäsar-Preller muss er belegen, dass sein kaputtes Auge zweifelsfrei durch das Vakzin ausgelöst wurde.

Die Anwälte des Mainzer Impfstoffherstellers bestreiten das. Sie sagen: Auch andere Faktoren könnten den Augeninfarkt verursacht haben. Übergewicht zum Beispiel, hohe Cholesterinwerte, Blutdruck. Außerdem wies der Richter bei der ersten Sitzung in Juli auf ein „positives Nutzen-Risiko-Verhältnis“ der Impfung hin. Das bedeutet nichts anderes als: Wenn die guten Dinge die schlechten überwiegen – dann war die Impfung auch für Scherer sinnvoll.

Scherers Anwalt Joachim Cäsar-Preller ist der Ansicht, dass sich ein positives Kosten-Nutzen-Verhältnis nicht allein dadurch begründe, dass die Medikamente zugelassen waren. „Es ist vielleicht ein Indiz, aber noch kein Beweis.“

Seine Kanzlei vertritt deutschlandweit tausend solcher Schicksale wie das von Dietmar Scherer. Geschädigte, bei denen mindestens ein Arzt den Impfschaden bescheinigt habe. Jeder Prozess sei ein langwieriger Weg. „Bei jedem Einzelfall muss man weitere Hürden überwinden, Spezialprobleme der Betroffenen. Deshalb gibt es bundesweit auch keine Sammelklage gegen Biontech.“

So geht es für Dietmar Scherer jetzt weiter

Wie es für Dietmar Scherer weitergeht? Man hoffe auf eine Beweisaufnahme durch einen gerichtlichen Sachverständigen, sagt Cäsar-Preller. Die Kammer, die den Prozess ins schriftliche Verfahren übertragen hat, wollte im September darüber entscheiden. Jetzt wird es wohl Dezember.

Biontech wollte sich auf Nachfrage nicht konkret zum Prozess äußern. Nur so viel: Berechtigte Ansprüche würde Biontech erfüllen. „Wir haben diesen Fall auf der Grundlage aller zur Verfügung gestellten Informationen individuell und sorgfältig geprüft und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die Klage unbegründet ist. “ Weitere Details bleiben aus.

Scherer sagt: „Das ist ein Farce.“ Eine Tortur für jemanden, der sich damals, unter enormem Druck der Gesellschaft, dazu entschlossen hatte, sich noch einmal impfen zu lassen, obwohl der Impfstoff sehr jung war.

Normalerweise dauert es Jahre bis Jahrzehnte, einen wirksamen und sicheren Impfstoff zu entwickeln, heißt es vom Deutschen Zentrum für Infektionsforschung. In der Pandemie gelang es verschiedenen Herstellern, die Zeit dafür erheblich zu verkürzen. Die EU-Staaten hatten damals ein großes Interesse an der schnellen Versorgung der Bevölkerung, sie übernahmen auch das Risiko etwaiger Schmerzensgelder.

Landgericht Rottweil: Der Schauplatz des bundesweit ersten Prozesses um Schadensersatzforderungen gegen Biontech.
Landgericht Rottweil: Der Schauplatz des bundesweit ersten Prozesses um Schadensersatzforderungen gegen Biontech. | Bild: Silas Stein/dpa

Scherer sagt: „Als Geschädigter steht man am Ende ganz alleine da und muss einen unbändigen Kampf führen, um ein klein wenig Anerkennung und eine lächerliche, aber unbedingt erforderliche Entschädigung für den erlittenen Dauerschaden zu bekommen.“ Was sind schließlich 150.000 Euro schon gegen ein blindes Auge?

Seine eigene Hand kann der 58-Jährige heute auf dieser Seite nicht mehr erkennen. Das Auge, sagt er, sei extrem lichtempfindlich. Er schützt es mit verdunkelten Brillengläsern. In seinem Haus sind die Jalousien heruntergelassen.

„Meine Existenz steht auf dem Spiel“

Dietmar Scherer war früher Werksleiter für einen Automobilzulieferer. Weil die Firma, für die er lange gearbeitet hatte, in der Pandemie verkauft wurde, verlor der Ingenieur seine Stelle. Als das mit dem Auge passierte, suchte er gerade nach neuer Arbeit. Das tut er heute noch.

„Ich habe einen ordentlichen Lebenslauf“, sagt er. Wer aber wolle einen qualifizierten 58-Jährigen mit einer solchen Einschränkung noch einstellen? Offenbar niemand. Die Rücklagen werden indes knapper. „Ich habe Schulden am Haus abzubezahlen, keine Millionen auf die Seite gescheffelt, zwei Kinder in Ausbildung. Meine Existenz steht auf dem Spiel.“

Heruntergelassene Jalousien: Dietmar Scherer zwischen Studien, Arztberichten, Untersuchungsdaten. Der 58-Jährige fühlt sich nur noch in ...
Heruntergelassene Jalousien: Dietmar Scherer zwischen Studien, Arztberichten, Untersuchungsdaten. Der 58-Jährige fühlt sich nur noch in verdunkelten Räumen wohl. | Bild: Elisa-Madeleine Glöckner

150.000 Euro würden da schon ein wenig helfen. Es geht Dietmar Scherer aber nicht nur darum, nicht nur ums Geld. Da seien schließlich noch andere Betroffene. Er halte es für eine Katastrophe, alles weiterlaufen zu lassen, als sei nichts passiert. Dass die Pandemie plötzlich verdrängt und vergessen ist als ein Haufen Corona-Schutzverordnungen. Dass Impfgeschädigte nur Kollateralschaden sind. Das soll nicht von Corona übrig bleiben, glaubt Scherer. Sondern auch ein wenig Solidarität.