Wenn Ulrich Baum morgens in sein Auto steigt und zum Ravensburger Landgericht fährt, weiß er nicht, was ihn an diesem Tag erwartet. Verhandlungen wegen Drogendelikten, Diebstahl oder Körperverletzung – alles ist möglich. Dabei hat Baum nie Jura studiert und kaum Ahnung vom Strafrecht. Und trotzdem fällt er am Ende der Verhandlung das Urteil.
Baum ist einer von 7000 Schöffen in Baden-Württemberg. Und damit „üben die Schöffen während der Hauptverhandlung das Richteramt in vollem Umfang und mit gleichem Stimmrecht wie die Richter (…) aus“. So steht es im Leitfaden für Schöffen des Landes Baden-Württemberg.
Dass Baum seit zehn Jahren Schöffe ist, habe sich eher zufällig ergeben, sagt er: „Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, Schöffe zu werden.“ Als er dann von der katholischen Gesamtkirchengemeinde gefragt wurde, beschäftigte er sich zum ersten Mal damit. „Ich habe an kleinere Verfahren am Amtsgericht oder so gedacht“, sagt er heute lachend. Schlussendlich wurde er Hauptschöffe am Ravensburger Landgericht. Einfluss hatte er darauf nicht, das werde für einen entschieden, so der 64-Jährige.
Manche Fälle vergisst man nicht
„Man nimmt schon etwas mit aus den Verhandlungen“, sagt Baum. Manche Fälle gehen ihm näher und beschäftigen ihn länger als andere. Als beispielsweise jemand die eigene Mutter erstochen hatte und die Nichte dabei war: „Das bleibt besonders im Kopf.“ Oder wenn Menschen immer wieder auf die schiefe Bahn geraten, obwohl sie es zuvor jedes Mal wieder auf den richtigen Weg geschafft hatten, so Baum.
Trotzdem ist er vom Guten im Menschen überzeugt. „Ich bin eher der gutgläubige Schöffe“, sagt er über sich selbst. Das komme aber auch daher, weil er nicht tagtäglich im Gericht sitze.
Zwölf Verhandlungen im Jahr haben Schöffen in der Regel. Das sei nicht in allen Berufen möglich, weiß Baum. Denn zum Teil gibt es nicht nur einen Verhandlungstag. In einem Fall seien 40 Tage angesetzt worden, erinnert er sich. Weil Schöffen, genau wie Richter, nicht während des Prozesses einfach ausgetauscht werden können, ist es wichtig, dass sie sich die Zeit nehmen können und nicht eventuell im Urlaub sind. „Wenn ich einen Tag nicht mitbekomme, kann ich kein Urteil fällen“, sagt Baum.
Nur einmal musste er bislang frühzeitig für eine Verhandlung aus dem Urlaub zurückkommen. Von der Arbeit müssen Schöffen in den meisten Fällen freigestellt werden. Wenn der Arbeitgeber die verlorene Arbeitszeit nicht bezahlt, erhält der Schöffe eine Entschädigung. Für Selbstständige sei es natürlich dennoch schwierig, sich als Schöffe zu engagieren, räumt Baum ein. Er selbst war Abteilungsleiter bei ZF und zuständig für Schadensanalysen, mittlerweile ist er in der passiven Altersteilzeit.
Schöffen und Richter fällen Urteil gemeinsam
Zwei Schöffen und mindestens ein Richter sind bei den Verfahren zugegen. Etwa 15 Minuten vor Verhandlungsbeginn führt der Richter die Schöffen in den Fall ein: Um welche Straftat handelt es sich? Welche Zeugen werden gehört? Wer ist angeklagt? Für den Prozess schreibt der Richter eine Art Drehbuch und nennt auch seine Tendenz für das Urteil.
Während der Verhandlung ziehen sich Richter und Schöffen regelmäßig zurück, um sich zu beraten und um Fragen zu klären. Wobei Schöffen, genau wie Richter, auch im Gericht Fragen stellen dürfen. Für das Urteil wird schlussendlich eine Zwei-Drittel-Mehrheit benötigt – zwei Schöffen können also den Richter überstimmen. „In Ravensburg herrschte bei uns aber bisher immer Konsens“, sagt Baum.
„Es ist deprimierend, wenn klar ist, dass der Angeklagte der Täter ist, aber nicht verurteilt werden kann, weil die Beweislage nicht ausreicht“, sagt er. Denn für das Urteil zählt nur, was im Gericht gesprochen oder gezeigt wurde. Deswegen könne man sich auch nicht darauf verlassen, dass die Wahrheit ans Licht kommt, so Baum. „Das ist ein Trugschluss.“ Meist sei die Wahrheit im Vorfeld schon offensichtlich – es gebe kaum Fälle, die wirklich unklar seien.
Seitdem Ulrich Baum sich als Schöffe engagiert, habe er „einen Riesenrespekt gegenüber der Rechtsprechung“, sagt er. Vor der Tätigkeit habe er Urteile auch oftmals nicht verstanden. Vor allem, wenn jemand wegen Dealens zu einer härteren Strafe verurteilt wurde als jemand, der wegen Körperverletzung angeklagt war.
Wovon das Strafmaß abhängt
Heute weiß er, dass verschiedene Strafmaße von vielem abhängen können: „Jemand, der noch nie straffällig geworden ist, einen guten familiären Hintergrund hat, einen festen Job und festen Wohnsitz, der aber nach einer Provokation einem anderen eins auf die Nase haut, kommt wahrscheinlich eher mit einer Geldstrafe davon als jemand, der bereits ein Vorstrafenregister besitzt und zum wiederholten Mal mit Drogen gedealt hat.“ Deswegen werde am Anfang einer jeden Verhandlung auch so viel Zeit und Wert auf die Fragen nach der Herkunft und dem persönlichen Umfeld gelegt.
Für die nächste Wahlperiode hat sich Baum noch einmal bereit erklärt, danach ist für den 64-Jährigen aber Schluss. „Es ist auch langwierig und anstrengend, zum Teil fünf bis sechs Stunden konzentriert zuzuhören“, gibt er zu. Gleichzeitig habe es aber auch einen „gewissen Kick“, sagt Baum: „Man taucht in eine Welt ein, die einem sonst verborgen bleibt.“
Ob er schon einmal an einem Urteil gezweifelt hat? Nein. „Man steht ja nicht alleine da und ist verantwortlich“, so Baum. „Wir sind die Qualitätssicherung. Die Richter müssen ihre Entscheidungen uns gegenüber ordentlich begründen.“