Falls sich der Fall aus Singen vom vergangenen Samstag tatsächlich so zugetragen hat, hat das Polizeipräsidium Konstanz einen Skandal am Hals. Denn der Vorwurf des Verbands Deutscher Sinti und Roma (VDSR) – er wiegt schwer. Zwei Polizisten sollen einen zur Minderheit gehörenden elfjährigen Jungen in Handschellen gelegt und zur Polizeiwache gebracht haben.
Warum? Laut Mitteilung des Verbandes soll das Kind mit Freunden draußen gespielt haben, als zwei Polizisten eine Personenkontrolle durchführten. Kurz darauf sollen zwei andere Polizisten die Kinder zur Rede gestellt und dabei ein „kleines Klappmesser“ bei dem betroffenen Jungen gefunden haben.
Mit Handschellen ins Auto gesetzt
Er stellte angeblich klar, dass er das Messer nur für die Gartenarbeit bei sich trug, wies laut Mitteilung auch auf sein Alter, seine drei gebrochenen Rippen und Asthma hin. Trotzdem hätten ihm die Polizisten die Arme mit Handschellen auf den Rücken gefesselt und den Jungen „mit körperlicher Gewalt auf den Rücksitz des Einsatzwagens verbracht.“
Im Auto soll er von seiner Mutter und seinem Onkel mehrfach angerufen worden sein. Die Polizisten hätten dem Jungen ein Gespräch jedoch verwehrt. Wie der Rechtsanwalt der Familie, Mehmet Daimagüler, im Gespräch mit dem SÜDKURIER erklärt, habe man dem Jungen erst auf der Wache die Handschellen abgenommen, ihn nach einer halben Stunde auf freien Fuß gesetzt und anschließend allein nach Hause geschickt.
Staatsanwaltschaft ermittelt, hält sich aber bedeckt
Ob sich diese Geschichte tatsächlich genau so abgespielt hat, ist bislang noch völlig unklar. Die Staatsanwaltschaft Konstanz hat nach Eingang der Strafanzeige gegen die Polizisten die Kriminalpolizei Rottweil mit den Ermittlungen betraut. „Ich bitte um Verständnis, dass ich zum jetzigen Zeitpunkt zu dem angezeigten Geschehen keine Angaben machen kann; eben dieses ist Gegenstand der Ermittlungen“, sagt Staatsanwalt Johannes-Georg Roth.
Polizei: „Ein solcher Vorfall ist uns nicht bekannt und nicht vorstellbar“
Ein Konstanzer Polizeisprecher bestätigte, dass im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Singen am vergangenen Samstag ein Elfjähriger auf die Wache gebracht wurde. Auch eine Strafanzeige der Staatsanwaltschaft Konstanz sei eingegangen. Weitere Angaben könne man aufgrund des laufenden Verfahrens nicht machen.
Polizeisprecher Uwe Vincon verweist auf die Neutralität der Polizeiarbeit. Es komme zwar immer wieder aus verschiedenen Kulturkreisen zu Vorwürfen gegen die Polizei. Doch man handele in jedem „Einsatz so, wie die Sachlage es erfordert, und wir treffen unsere Maßnahmen fernab jedweder Nationalität oder Herkunft immer gleich.“
Der Anwalt der Familie, Mehmet Daimagüler, vertrat in seiner Laufbahn schon häufiger Opfer von Hasskriminalität oder Opfer von Polizeigewalt, etwa als Nebenkläger im NSU-Prozess. „Aber dass einem Kind so etwas passiert sein könnte, höre ich zum ersten Mal. Deshalb sollte es im Interesse der Polizei sein, hier umfänglich aufzuklären. Die Familie aber auch die Öffentlichkeit haben Anspruch auf eine gründliche Ermittlung“, so Daimagüler.
Klar ist: Der Fall ruft bundesweit ein großes Medienecho hervor. Und die Polizei sieht sich mit Rassismus-Vorwürfen konfrontiert.
Polizei habe sich nicht gemeldet
Der Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler kritisiert nicht nur die Tatvorwürfe an sich. Auch das Verhalten der Polizisten einige Tage später wiegt für ihn schwer. „Bei ähnlichen Fällen habe ich es erlebt, dass die Polizei Kontakt aufnimmt zu den Betroffenen und erklärt, was passiert ist. Gerade wenn es um Kinder geht, müssen die Eltern doch erfahren, was aus Sicht der Polizei vorfiel. Aber bis heute ist nichts geschehen“, so Daimagüler.
Das bestätigt auch Chana Dischereit. Sie arbeitet beim Landesverband Deutscher Sinti und Roma, eben der Organisation, die den mutmaßlichen Vorfall öffentlich machte. „Bis jetzt kam bei der Familie kein Polizist vorbei“, sagt sie. Der Verband unterstützt Familien in solchen Angelegenheiten, gibt Hilfestellung, klärt über Rechte auf, wie auch im Singener Fall.
„Auch von elfjährigem Kind könnte Gefahr ausgehen“
Auch Björn Bilidt ist davon überzeugt davon, dass in Singen nicht alles mit rechten Dingen abgelaufen ist, falls die Geschichte des Verbandes tatsächlich stimmen sollte. Der Rechtsanwalt aus Radolfzell beschäftigt sich in Strafverfahren auch mit den Rechten von Kindern.
Er sagt einerseits: „Grundsätzlich darf die Polizei zur Gefahrenabwehr Menschen die Handfesseln anlegen. Und auch von einem elfjährigen Kind könnte theoretisch eine Gefahr ausgehen. Es mit auf die Wache zu nehmen, ist in einzelnen Ausnahmesituationen auch möglich.“
Hohe Hürden für Polizisten bei Kindern
Dennoch müssen dafür – gerade bei Kindern – hohe Hürden überwunden werden. Denn die Polizei ist gleichzeitig dazu verpflichtet „das mildeste Mittel anzuwenden, das in diesem konkreten Einzelfall möglich ist, um die Situation unter Kontrolle zu bringen“, sagt er.
Ob es wirklich notwendig ist, dem Kind die Handschellen anzulegen, nachdem das Messer sichergestellt wurde „ist zumindest einmal höchst fragwürdig“, so Bilidt.
Sollten die Polizisten nicht umgehend die Eltern informiert und den Jungen tatsächlich daran gehindert haben mit seinen Eltern im Polizeiauto zu telefonieren, „wäre das auf jeden Fall ein Verstoß gegen die Dienstplichten“, sagt Bilidt. Denn jeder Beschuldigte, insbesondere Kinder, hätten das Recht darauf ihre Angehörigen zu informieren.
„Wenn man die Eltern nicht sofort erreicht, muss die Polizei das Jugendamt kontaktieren. Und bei einem Kind muss auch ein Pflichtverteidiger dazu geholt werden. Wenn an dieser Geschichte wirklich etwas dran sein sollte, braucht die Polizei sehr, sehr gute Gründe“, sagt Björn Bilidt. Die Polizei bleibt jedoch dabei, dass es keinen vergleichbaren Fall gab und verweist auf die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.
Ob es sich tatsächlich so zugetragen hat, wie der Roma-Verband behauptet, bleibt abzuwarten. Erst die Ermittlungen werden Klarheit schaffen. Bis dahin gilt auch für die Polizei die Unschuldsvermutung.