Eigentlich will sie nur kurz mit ihrer vierjährigen Tochter im Supermarkt in Wangen nach Übertöpfen schauen: „Diese blöden Töpfe waren im Angebot“, sagt die Frau bei ihrer Aussage in der Gerichtsverhandlung unter Tränen. Doch als sie am Regal steht, hört sie plötzlich ihre Tochter wimmern: „Mami, Mami“. Neben dem Mädchen kniet ein ihr unbekannter Mann, die Mutter sieht, wie er mehrfach mit einem schwarzen Messer auf ihr Kind einsticht. Insgesamt viermal sticht er ihr in den Bauch; nachdem ein Zeuge eingreift, flüchtet der Mann.
Angeklagter spricht von „göttlicher Eingebung“
Die Mutter fährt das Kind selbst in die nahegelegene Klinik, wo es notoperiert wird. Für die Mutter beginnen viele Stunden des Bangens, bis klar ist: Ihre Tochter hat überlebt, der Täter hat die Bauchschlagader knapp verfehlt. Kurze Zeit nach der Tat kann der mutmaßliche Täter in einer Obdachlosenunterkunft unweit des Tatorts festgenommen werden.
Am Mittwoch begann vor dem Landgericht Ravensburg der Prozess gegen den Angeklagten. Ihm wird versuchter Mord und gefährliche Körperverletzung zur Last gelegt. Der 34-Jährige gibt die Tat unumwunden zu. „Ja“, erwidert er nur, als Richter Veiko Böhm ihn fragt, ob er mit einem Messer auf das Kind eingestochen habe. Einen Großteil der Zeit nimmt am ersten Prozesstag die Frage nach dem Warum ein.

Immer wieder spricht der Mann muslimischen Glaubens von „göttlichen Stimmen und Eingebungen“, die er hat. Eine solche Eingebung sei auch der Grund für die Tat gewesen: Er habe eine Hand gesehen, die Stichbewegungen ausführte, sowie eine Person in Kindesgröße. Daraufhin sei er mit dem Messer in den Supermarkt gegangen, wo er das Mädchen gesehen und sie attackierte habe.
Nach der Tat betet der Mann
Ob ihm egal gewesen sei, was danach mit dem Kind passiert, will Richter Böhm wissen. Wieder erwidert der 34-Jährige nur: „Ja.“ Auch denke er nicht an das, was geschehen sei, er habe damals einfach nur zustechen wollen, „es erledigen“. Auf die Frage des Richters, ob ein Mensch, der auf göttliche Eingebung hin auf einen fremden Menschen einsticht, auf die Allgemeinheit losgelassen werden dürfe, erklärt der Angeklagte: „Wenn es eine göttliche Eingebung war, dann ja.“
Widerstandlos habe der Mann sich festnehmen lassen, sagt der damals diensthabende Polizeibeamte im Zeugenstand aus. Auf der Fahrt ins Polizeirevier und auf der Wache selbst habe der Mann durchgängig gebetet, wie in einer anderen Welt sei er gewesen.
Bis 2020 spielt der Glaube keine große Rolle
Die Frage nach den Gründen für die Tat ist also auch eine Frage danach, seit wann der Angeklagte Stimmen im Kopf hört, die zu ihm sprechen. 2015 kam der Mann als Flüchtling nach Europa, lange habe er seinen Glauben nicht allzu streng genommen, ab und zu auch Alkohol konsumiert – bis er im Jahr 2020 angefangen habe, im Koran zu lesen.
Ab da begann der Glaube eine zentrale Rolle im Leben des 34-Jährigen Leben einzunehmen. Wie es zu diesem Schritt gekommen sei, will Oberstaatsanwältin Christine Weiss vom Angeklagten wissen. Darauf hat er keine konkrete Antwort. Er habe gesehen, es sei „die Wahrheit und der richtige Weg“. Nach einer Reise nach Saudi-Arabien, die „ein göttlicher Befehl“ gewesen sei, zog der Mann ins Allgäu zu seiner Schwester. Zu ihr sagte er, er sei ein Gesandter Gottes.

Beim Opfer bleibt eine große Narbe zurück
Weil das Zusammenleben mit seiner Schwester und deren Familie nicht funktionierte, schlief der Angeklagte in der Moschee oder in einer Tiefgarage, sein letzter Wohnort war eine Obdachlosenunterkunft in Wangen.
Mittlerweile ist er in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht, die Anklagebehörde geht von Schuldunfähigkeit aufgrund einer psychischen Erkrankung aus. Sie hat ein sogenanntes Sicherungsverfahren beantragt, vier weitere Verhandlungstage sind im Prozess angesetzt.
Die Mutter des Kindes ist beim Prozessbeginn aus einem Nebenraum zugeschaltet und muss somit nicht im selben Raum wie der Angeklagte sitzen. Dieser folgt ihren Schilderungen regungslos. Sie berichtet darüber, dass die Verletzungen ihrer Tochter soweit gut verheilt seien, eine große Narbe sei zurückgeblieben. Ihre Tochter habe dieser Narbe einen Namen gegeben, um besser damit umgehen zu können.
Sie selbst sei sehr vorsichtig geworden, habe anfangs nicht mehr einkaufen gehen können und leide unter Schlafproblemen. Vor allem aber, sagt die Mutter, gehe ihr die Frage nicht aus dem Kopf, sagt die Mutter: „Warum wird ein unschuldiges, vierjähriges Kind mit einem Messer angegriffen?“
Ein Urteil wird am 23. Oktober erwartet. Das Gericht hat auch zu entscheiden, ob der Angeklagte dauerhaft in die Psychiatrie muss.