Warum rutscht die Bodenseegürtelbahn immer tiefer in den Verkehrsschatten?

Mit Inbetriebnahme der elektrifizierten Südbahn hat das zuständige Landesministerium beschlossen, die dieselbetriebenen IRE-Züge aus Basel nicht mehr bis Ulm, sondern nur noch bis Friedrichshafen fahren zu lassen. Allein dies verlängert die Reisezeit ab Überlingen bis Ulm um 25 Minuten. Gleichzeitig wurde beschlossen, die Neigetechnikzüge durch Doppelstockzüge zu ersetzen und hierzu den IRE-Fahrplan zu „entspannen“. Auf kurvenreichen Strecken kostet dies Zeit, sodass sich die Reisezeit von Basel bis Ulm von 3 Stunden 10 Minuten auf knapp unter 4 Stunden verlängert – allein bis Friedrichshafen verlängert sich die Reise um 20 Minuten. Dazu kommt noch der nicht zu unterschätzende Umstand neuer Umsteigevorgänge.

Bild 1: Sorge wegen neuem Fahrplan: Bahnexperte Thieke rechnet mit starkem Rückgang der Fahrgastzahlen der Bodenseegürtelbahn
Bild: Schönlein, Ute

Welche Folgen wird das für die Fahrgastzahlen haben, oder anders gefragt: Wie sensibel reagieren die Fahrgäste auf die Verschlechterungen im Angebot?

Das fahrplanmäßige Angebot einerseits, aber auch die Zuverlässigkeit in Form von Pünktlichkeit im Betrieb und besonders die Merkbarkeit des Konzeptes spielen eine wichtige Rolle bei der Verkehrsmittelwahl. Zunächst gilt es positiv zu betrachten, dass spürbare Reisezeitverkürzungen und weniger Umsteigevorgänge meist zu messbaren Nachfragesteigerungen führen. Entscheidend ist dabei der Weg von Tür zu Tür und die mittlere Wartezeit bis zur nächsten geplanten Abfahrt. Die Wissenschaft stellt fest, dass das Reisezeitbudget meist relativ konstant ist. Die Nachfrage sinkt in etwa im selben Verhältnis wie sich die Reisezeiten verlängern. Braucht man als Pendler Tür-zu-Tür am Morgen neu eher 60 statt 45 Minuten, sinkt die Nachfrage rasch um 25 bis 30 Prozent, Pendler nehmen lange Wege nicht mehr in Kauf oder wechseln aufs Auto.

Jean-Christophe Thieke: „Es braucht Lösungen, wie der westliche Bodenseekreis wieder gut und regelmäßig die Schwarzwaldbahn ...
Jean-Christophe Thieke: „Es braucht Lösungen, wie der westliche Bodenseekreis wieder gut und regelmäßig die Schwarzwaldbahn erreicht.“ | Bild: Hilser, Stefan

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Ja, im Jahr 2004 ließ das Eisenbahnbundesamt die Neigetechnik der IRE Basel – Lindau abschalten. Fahrplan und Anschlüsse konnten nur erhalten werden, indem Bahn und Land kurzerhand den IRE umsteigefrei nach Ulm statt nach Lindau fahren ließen. Selbst die Verantwortlichen staunten, dass allein der Wegfall des Umstiegs zu so starken Fahrgastzuwächsen führten, dass die Züge seitdem oft die Kapazitätsgrenze erreichten.

Mit welchen Folgen rechnen Sie für den jetzigen, wieder schlechteren Fahrplan?

Mit dem Fahrplan 2022 rechne ich mit einem sehr starken Einbruch der Fahrgastzahlen auf der Bodenseegürtelbahn, besonders westlich von Überlingen: Mich würden – bereinigt um Corona-Effekte – Rückgänge um 15 bis 20 Prozent auf den IRE-Zügen und etwa 10 Prozent auf der Regionalbahn im Abschnitt Radolfzell – Überlingen nicht wundern. Dies selbst dann, wenn in Radolfzell die Seehas-Anschlüsse wieder so gut wie vor 15 Jahren werden.

Was müsste passieren, damit der nördliche Bodensee kurzfristig wieder besser angebunden wird?

Angebotslücken im Fahrplan müssten geschlossen und Ausnahmen im System reduziert werden. Es darf keine ortsspezifischen Lücken von über 60 Minuten mehr geben. Dann braucht es Lösungen, wie der westliche Bodenseekreis wieder gut und regelmäßig die Schwarzwaldbahn erreicht, etwa durch einen stündlichen IRE mit attraktiven Buszubringern aus Bermatingen und Markdorf nach Salem und kurzen Anschlüssen in Radolfzell. Die Gleiskapazitäten geben dies auch ohne großen Ausbau bereits her. Entscheidend wäre also die Bereitschaft des Landes, die notwendigen Finanzierungsmittel als Besteller des Schienenpersonennahverkehrs in die Hand zu nehmen.

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Die Elektrifizierung kann aber noch viele Jahre dauern. Was ist in der Zwischenzeit zu tun?

Bahn, Bund und Land dürfen bei der Modernisierung der Bahnhöfe Markdorf, Bermatingen und Uhldingen-Mühlhofen nicht auf die Elektrifizierung warten. Diese Bahnhöfe hätten bereits vor 10 Jahren angepackt werden können. Bestimmte Bahnhöfe wurden vom Bund sogar mit 100-Prozent-Finanzierung ins 1000-Bahnhöfe-Programm aufgenommen. Mit Verweis auf die Elektrifizierung ist hier aber nichts gelaufen. Ich meine, das war ein Fehler, weil schon heute der Fahrplan dringend besser Betriebsabläufe in den Bahnhöfen braucht.

Zeigt die Entwicklung mustergültig auf, dass an der Elektrifizierung der Bodenseegürtelbahn nun kein Weg mehr vorbeiführt?

Die Elektrifizierung allein wird nicht ausreichen, wir brauchen ganztägig umsteigefreie Verbindungen im Stundentakt bis Ulm und Basel sowie schlanke Anschlüsse zur Gäubahn in Singen, zum Seehas und zur Schwarzwaldbahn in Radolfzell und regional umsteigefreie Pendlerzüge, die nicht wie heute alle am Stadtbahnhof Friedrichshafen oder kurz vor der Industriestadt Singen enden. Wollen wir eine echte Mobilitätswende, brauchen wir bedürfnisgerechte Alternativen zum PKW. Es bleibt unbestritten: auf der Schiene wird es unabhängig konkreter Fahrplankonzepte besonders in den Räumen Überlingen – Uhldingen-Mühlhofen und Markdorf – Friedrichshafen nötig sein, zweigleisige Ausbaumaßnahmen politisch und rechtlich durchsetzen sowie finanzieren zu können.

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