Mia muss Pipi. Sie bekommt das Latzkleid nicht aufgeknöpft. „Kannst du mir helfen?“, fragt sie ihre Erzieherin Tina. Derweil klettert Ben auf die Empore und schubst Yusuf dabei von der Leiter. Der weint. Im Hintergrund steht Chiara, die bereits zum vierten Mal fragt, ob Tina vorlesen kann. „Nein“, sagt Tina, „ich muss erst Mia schnell helfen, dann Yusuf trösten und Ben erklären, dass das so nicht geht. Gleich kommt noch Stefano zur Eingewöhnung und danach ist Gartenzeit.“ 13 Kinder, eine Tina. So sieht die Höchstgruppenstärke in vielen Häfler Kindergärten aus.

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Tina heißt in Wirklichkeit anders. Aus Angst vor Problemen mit ihrem Arbeitgeber bittet sie um Anonymisierung: „Das wird einem sonst negativ ausgelegt.“ Tina arbeitet in einer der 49 Kindergartengruppen, die seit nunmehr sechs Jahren auf Höchstgruppenstärke laufen. 2015 stellte die Stadtverwaltung in allen Gruppen mit verlängerten Öffnungszeiten (VÖ) für Über-Dreijährige von Regelgruppenstärke (22 Kinder) auf Maximalbelegung (25 Kinder) um. Die Begründung lautete damals, es müssten im Zuge der Flüchtlingskrise viele geflüchtete Kinder aufgenommen werden.

Der Grund für die Höchstgruppenstärke: fehlende Kindergartenplätze

Seither ist die Maximalbelegung in Häfler VÖ-Gruppen Norm – und die Grundlage für die Berechnung des Bedarfs an Kindergartenplätzen, die jährlich im Kindergartenbedarfsplan festgehalten wird. „Für das kommende Kindergartenjahr wird die Höchstgruppenstärke weiter benötigt, um den Rechtsanspruch zu erfüllen“, erläuterte Stefan Dunkenberger, Abteilungsleiter der Häfler Kindertageseinrichtungen, dem Kultur- und Sozialausschuss. Die Kindergartenplätze reichen bei Regelbelegung mit 22 Kindern nicht dafür aus, alle Häfler Kinder zu versorgen – und dass, obwohl Friedrichshafen seit vielen Jahren massiv neue Einrichtungen baut und Plätze schafft.

Im Fallenbrunnen entstehen nicht nur Wohnhäuser, sondern auch eine neue Kita mit 70 Plätzen für Kinder über drei Jahren. Träger ist die ...
Im Fallenbrunnen entstehen nicht nur Wohnhäuser, sondern auch eine neue Kita mit 70 Plätzen für Kinder über drei Jahren. Träger ist die Stadt Friedrichshafen. | Bild: www.flugundbild.de/Gerhard Plessing

Hier entstehen zum Kitajahr 2021/2022 Plätze

Mitte Mai gab der Gemeinderat dem Vorhaben, die Gruppen auch im Kindergartenjahr 2021/2022 in Höchstgruppenstärke zu lassen, grünes Licht. Aktuell heißt das: 1,9 Kräfte betreuen 25 Kinder – laut Kindertagesstättenverordnung Baden-Württemberg ist das der Mindest-Personalschlüssel. Eine Tina, 13,1 Kinder – und das ist der Idealfall, denn Krankheiten, Urlaube, Personalausfälle kommen hinzu.

Grünen und Netzwerk wollen besseren Personalschlüssel

Für Grünen-Gemeinderätin Christine Heimpel ist diese Situation nicht tragbar. Gemeinsam mit dem Netzwerk für Friedrichshafen hat ihre Fraktion deshalb beantragt, Personal in den betroffenen 49 VÖ-Gruppen auszubauen – damit ein Schlüssel von 1:8, also den von der EU empfohlenen Mindestbetreuungsschlüssel, erreicht wird.

Grünen-Gemeinderätin Christine Heimpel ist selbst gelernte Erzieherin. Sie kritisiert, dass in Friedrichshafen zu wenig Fachkräfte zu ...
Grünen-Gemeinderätin Christine Heimpel ist selbst gelernte Erzieherin. Sie kritisiert, dass in Friedrichshafen zu wenig Fachkräfte zu viele Kinder betreuen müssen – und beantragte deshalb einen Betreuungsschlüssel von 1:8 statt 1:13,1. | Bild: Lena Reiner

„Wir haben in Friedrichshafen doch längst die Entscheidung getroffen, dass unsere Kinder die Zukunft sind und wir als Stadt gute Bildungs- und Betreuungseinrichtungen mit einem hohen Qualitätsstandard bieten wollen“, sagt sie. Die Konsequenz daraus sei, auch viel Geld in die Kitas und das Personal zu stecken.

„Der Fachkräftemangel ist auch deshalb so groß, weil in vielen Kitas die Personalsituation untragbar ist“, sagt Heimpel, selbst gelernte Erzieherin. Der Antrag, Personal aufzustocken wurde von den anderen Fraktionen zwar für sinnvoll befunden, allerdings dennoch mit Verweis auf den knappen Haushalt und die Kurzfristigkeit mehrheitlich abgelehnt. „Viele verschließen die Augen einfach davor, dass die Kräfte den Kindern so gar nicht mehr gerecht werden können“, sagt Heimpel.

Kita zu Pandemiezeiten – laut der Bildungsgewerkschaft GEW haben sich die Bedingungen in Kindergärten während der Pandemie ...
Kita zu Pandemiezeiten – laut der Bildungsgewerkschaft GEW haben sich die Bedingungen in Kindergärten während der Pandemie deutlich verschlechtert. Dieses Bild zeigt einen Kindergarten in Schwerin. Wir verzichten bewusst an dieser Stelle auf Bilder aus Häfler Kindergärten, da die Sorge in den Einrichtungen groß ist, dass ihnen Qualitätsmangel unterstellt wird. | Bild: Jens Büttner

Erzieherin: „Viele Kinder brauchen mehr als wir geben können“

Auch Tina, Erzieherin in einem betroffenen Kindergarten in Friedrichshafen, wundert sich darüber, warum der Ausnahmezustand – die Höchstgruppenstärke – jahrelang aufrechterhalten wird. „Kindergarten ist heute doch anders als vor 30 Jahren“, sagt sie. Viele Kinder hätten Förderbedarf – und bis hier überhaupt klar sei, wie genau dem Kind geholfen werden könne und ob es Inklusionshilfe gebe, vergingen oft Jahre.

„So lange belegt dieses Kind einen Platz, nicht drei. Wir haben etliche Kinder, die nicht mitlaufen, sondern mehr bräuchten als wir geben können“, erklärt Tina. Die Folge: Erschöpftes Personal, ein teilweise hoher Krankenstand, der wieder neue Lücken aufreißt, viel Fluktuation. „Die Kinder bleiben auf der Strecke“, sagt Tina, „denn wenn wir mal ganz ehrlich sind: Differenzierung ist nicht möglich, wenn man zeitweise mit 25 Kindern alleine ist.“

Monika Stein ist Landesvorsitzende der GEW Baden-Württemberg. Sie sagt: „Kommunen stellen sich selbst ein Bein“ – und ...
Monika Stein ist Landesvorsitzende der GEW Baden-Württemberg. Sie sagt: „Kommunen stellen sich selbst ein Bein“ – und fordert mehr qualifizierte Fachkräfte in Kitas. | Bild: Michael Bamberger

Gewerkschaft: Kommunen stellen sich selbst ein Bein

Das sieht auch die Arbeitnehmervertretung Gewerkschaft für Bildung und Erziehung (GEW) so. „Aus Sicht der GEW kann bei einem Schlüssel von 1:14 keine angemessene Betreuungs- und Bildungsqualität gegeben sein. Bildung, gerade im frühkindlichen Bereich, setzt Beziehung voraus. Soll frühkindliche Bildung dabei helfen, soziale Ungleichheiten zu kompensieren, muss sie qualitativ hochwertig sein“, sagt GEW-Landesvorsitzende Monika Stein auf SÜDKURIER-Anfrage.

Viele Kommunen würden sich mit einem schlechten Personalschlüssel selbst ein Bein stellen. „Zufriedene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind unerlässlich, um den wachsenden Fachkräftemangel auszugleichen. Schlechte Rahmenbedingungen hingegen verschärfen den Fachkräftemangel immer weiter“, sagt Stein. Mit dem Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen gehe ein weiterer Qualitätsverlust einher. „Jetzt und nach der Krise wird mehr psychologische, logopädische und weitere Fachexpertise in Kitas gebraucht“, ist sich die Gewerkschafterin sicher.

Gesamtelternbeirat: Frust bei den Eltern nimmt zu

Laut dem Grünen-Antrag sind rund 1225 Kindergartenkinder in Friedrichshafen in einer Gruppe, die in Höchststärke belegt ist. „Wir fordern schon länger, dass die Regelgruppenstärke als verbindlich erreichendes Ziel formuliert werden soll“, sagt Nicole Dathe, Vorsitzende des Gesamtelternbeirats Kitas, „außerdem muss mehr Personal in die Kitas.“

Nicole Dathe
Nicole Dathe | Bild: Katy Cuko

Der Frust bei den Eltern nehme zu, denn eine qualitativ hochwertige Bildung und Betreuung in Kitas sei elementar. Vereinzelt gab es sogar schon Beschwerden von Eltern beim Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS), der Träger berät und unterstützt. „Dabei ging es um unzuverlässige Betreuungszeiten“, sagt Dathe, „denn unter Personalmangel leidet nicht nur die Qualität der Betreuung, sondern auch die Zuverlässigkeit.“

Die Eltern von Yusuf, Mia, Ben und den anderen Kindern, die Erzieherin Tina betreut, beschweren sich nicht. Sie haben andere Probleme. „Gerade deshalb wäre es wichtig, dass die Gruppen kleiner werden, damit wir uns wirklich gut um die Kinder kümmern können“, sagt Tina.