22 Uhr Ortszeit, irgendwo in den Bergen Kirgisistans, auf 2300 Metern Höhe. Patrick Majerle ist von seinem Mountainbike gestürzt und auf die Schulter gefallen. Majerle ist nur 180 Kilometer vom Ziel entfernt, ein Ziel, auf das er monatelang hingearbeitet hatte. War die ganze Vorbereitung nun umsonst?
Zwölf Tage zuvor, am 17. August, ist der Ravensburger beim Silk Road Mountain Race gestartet. Der Radmarathon in Kirgisistan gilt als einer der härtesten der Welt. Die Teilnehmer müssen in maximal 15 Tagen knapp 2000 Kilometer Strecke und mehr als 30.000 Höhenkilometer bezwingen, während des Rennens sind sie größtenteils auf sich allein gestellt. Nahezu alles, was sie an Verpflegung und Gepäck benötigen, transportieren sie die gesamte Zeit mit sich, an manchen Stellen muss das Fahrrad geschoben oder sogar durch einen Fluss getragen werden.
Was für die meisten unvorstellbar klingen mag, wurde für Majerle zu einem großen Ziel, auf das er sich monatelang akribisch vorbereitete. So kamen bei ihm auch keine Zweifel an der Größe des eigenen Vorhabens auf, als er zum ersten Mal das zu überquerende kirgisische Gebirge erblickte – im Gegenteil: „Ich habe mich so lange darauf vorbereitet, ich habe mir nur gedacht: Endlich geht es los!“
Dauerstress auf dem Rad – und auch nachts gibt es kaum Erholung
Das soll aber nicht über die Härte des Rennens hinwegtäuschen, denn, wie Majerle betont: „Eigentlich bist du da im Dauerstress und komplett allein mit dir selbst und deinen Gedanken. Du fährst über Stock und Stein auf bis zu 4000 Höhenmeter hoch, freust dich auf eine Abfahrt – dann wird die Strecke aber wellenförmig und es fühlt sich an, als ob es weiter bergauf geht, während du die ganze Zeit durchgeschüttelt wirst.“ Dazu komme der Höhenunterschied, unten sei er in Schweiß gebadet gewesen, weiter oben habe er gefroren – „das ist schon brutal und schlägt natürlich aufs Gemüt“, sagt Majerle.

Und auch nachts ist keine wirkliche Erholung in Sicht: „Ich hatte nur ein Biwak dabei, das hat von innen kondensiert, von außen war es nass wegen dem Regen – dementsprechend schlecht und kurz habe ich darin geschlafen“, berichtet Majerle – und fügt lachend hinzu, dass er das nächste Mal wohl ein Zelt mitnehmen würde.
Beim Blick auf den Himalaya sind die Strapazen vergessen
Aber diese schweren Momente hatten auch ihre guten Seiten, denn genau aus ihnen habe er eine seiner größten Erkenntnisse gezogen: „Manchmal ist es besser einfach weiterzufahren, einfach machen, anstatt endlos über den nächsten Schritt nachzudenken.“ Natürlich sei das eine Quälerei, natürlich habe er sich nach vier Stunden Schlaf gefragt, wie er es jetzt den Berg hinaufschaffen solle, aber irgendwie gehe es schon – auch, weil dann wieder Momente kommen, welche die Tortur erträglich scheinen lassen.

Verletzt, wütend und im Schlamm – aber nicht lebensgefährlich verletzt
Bis zum zwölften Tag besteht das Rennen für Patrick Majerle aus einem Mix aus dem Glücksgefühl, gerade etwas Besonderes zu erreichen und zu erleben, dem täglichen Kampf auf dem Rad – und der Erkenntnis, dass er es, wenn nichts Unvorhergesehenes passieren sollte, ins Ziel schafft, sogar deutlich unter der maximal erlaubten Zeit von 15 Tagen.
Majerle hat also Zeit, fühlt sich gut und nimmt sich deswegen noch zwei sogenannte Bonus Climbs vor, zwei Berganstiege, die er nicht machen müsste. Den ersten Berg erreicht er abends, dort ist es aber zu windig, zu nass und zu kalt, um zu übernachten. Also fährt er im Dunkeln wieder hinab. Dort passiert es dann: Das Vorderrad zieht es zur Seite weg, Majerle stürzt kopfüber über den Lenker und mit voller Wucht auf die linke Schulter. „Vermutlich war ich gedanklich kurz abgelenkt, ich war zu diesem Zeitpunkt auch schon seit weit über zehn Stunden auf dem Rad“, beschreibt er.
Er versucht sogar noch weiterzufahren, hofft, dass die Verletzung nicht zu gravierend ist – und stürzt wieder: „In dem Moment war ich fertig mit der Welt und wütend auf mich selbst, weil ich wusste, dass es vorbei ist. Wie lange ich da im Schlamm lag? Keine Ahnung.“ Den SOS-Knopf, den die Teilnehmer des Rennens zu jeder Zeit bei sich führen, drückt er trotzdem nicht – „das war ja keine lebensgefährliche Verletzung“, sagt Majerle lapidar. Mit dem gesunden Arm errichtet er ein Biwak, nach ein paar Stunden schleppt er sich weiter, auf der Suche nach Handyempfang, um medizinische Unterstützung anzufordern.

Schließlich trifft er auf einen kirgisischen Schäfer, dem er mit Händen und Füßen seine Notlage erklärt. Über dessen Handy erreicht er die Rennveranstalter, die sofort einen Krankenwagen losschicken. Bis die Hilfe ankommt, kümmert sich der Schäfer weiter um Majerle, nicht nur deswegen sagt er: „Von der Gastfreundlichkeit dort bin ich immer noch tief beeindruckt.“
Stolz auf das Erreichte, die nächste Herausforderung schon im Blick
Ein paar Tage nach dem Sturz stellt sich dann auch bei Patrick Majerle der Stolz ein und er erkennt, was er geleistet hat: „Natürlich ist ein Dämpfer da, weil ich nicht im Ziel angekommen bin, aber ich weiß, dass ich es ohne den Sturz geschafft hätte und dieses Wissen gibt mir unheimlich viel.“ Kraft gegeben habe ihm das ganze Rennen über auch die Spendenaktion für krebskranke Kinder, die er extra für das Rennen ins Leben gerufen hatte. „Das hat mir mental sehr geholfen, weil alles, was ich während dem Rennen durchgemacht habe, war freiwillig und kein Vergleich zur Situation der Kinder, die sich das nicht ausgesucht haben.“

Zurück am Bodensee: Patrick Majer, der beim Häfler Radsportverein Seerose trainiert, lässt seine verletzte Schulter bei einem Spezialisten in Friedrichshafen untersuchen. Die Diagnose: Schultereckgelenksprengung. Acht Wochen nicht belasten, Physiotherapie. Eine willkommene Pause also? Mitnichten. Majerle hat schon das nächste Rennen im Blick, im Februar 2025 will er beim 1300 Kilometer langen Atlas Mountain Race in Marokko an den Start gehen: „Das Silk Road Mountain Race hat mir gezeigt, dass ich so ein Rennen gut durchstehen kann – in Marokko will ich es dann auch bis ins Ziel schaffen.“