Ruhig und aufmerksam betrachtet Jeannine Casey auf der Terrasse von Christa Tholander die verblichenen schwarz-weiß-Aufnahmen aus einer längst vergangenen Zeit. Sie wecken Erinnerungen an ihren Vater, der vor wenigen Jahren mit 93 verstorben ist. Die Emotionen, die diese Fotos in ihr wecken, versucht, sie so gut es geht zu verbergen. Nein, sagt sie, ihr Vater habe mit ihr nicht gerne über das gesprochen, was ihm im Krieg widerfahren ist. Erst mit fortgeschrittenem Alter sei er dazu in der Lage gewesen. "Jetzt wo er nicht mehr bei uns ist, bedaure ich sehr, dass ich nicht öfter Fragen gestellt habe", sagt die 69-jährige Australierin leise.
Besuch in Friedrichshafen
Um besser zu verstehen, was ihren Vater einst traumatisiert hat, beschloss sie mit ihrem Mann Bruce, im Rahmen einer längeren Europareise, auch Friedrichshafen zu besuchen und ganz konkret die Firma MTU, Nachfolgeunternehmen des Maybach Motorenbau.

1943 wurde der damals 21-jährige Laurentius Rath aus den besetzten Niederlanden zwangsrekrutiert und zum Arbeiten an den Bodensee gebracht, wo er zusammen mit tausenden anderen Zwangsarbeitern, viele aus Polen und der Sowjetunion, die Versorgung der Bevölkerung und die Rüstungsindustrie aufrechterhalten musste. Für die schwere Arbeit in der Produktion bei Maybach zu schwach, wurde er als Sanitäter eingesetzt, um Arbeiter auf der Krankenstation zu versorgen, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in Baracken untergebracht waren.
Sanitäter Leo Rath musste die Toten bergen
Menschlichkeit? Fehlanzeige. Für jeden krankgeschriebenen Arbeiter musste er sich rechtfertigen und die Behandlung der "Ostarbeiter" war besonders schlecht. Wie die italienischen Militärinternierten hatten sie bei Bombenangriffen auf die Stadt keinen Zugang zu den Bunkern. Als beim Luftangriff vom 20. Juli 1944 über 100 Italiener in den Kellerräumen unter dem Werksgelände verschüttet wurden, war es der Sanitäter Leo Rath, der die Toten bergen und die Körperteile in Säcke packen musste. Das hat er seiner Tochter erst spät erzählt.

Zusammen mit der Historikerin Christa Tholander hat diese inzwischen in Friedrichshafen das Ehrenfeld 32 auf dem Friedhof, das Mahnmal am Fridolin-Endraß-Platz und das Zeppelinmuseum besucht. "Es ist bemerkenswert, wie Menschen in der Lage sind, wieder von vorne anzufangen", sagt sie angesichts der modernen Stadt, die aus den Trümmern entstanden ist. Wie ihr Vater, der 1952 beschloss, seine Heimat und die Erinnerungen an den Krieg hinter sich zu lassen, mit seiner Frau und der damals dreijährigen Jeannine ein Schiff Richtung Australien bestieg, um dort ein komplett neues Leben zu beginnen.

Viermal war er zwischen 1999 und 2004 in Begleitung seines Freundes Reinhard Krüük, der mit ihm im selben Lager war, nach Deutschland geflogen, um mithilfe von Christa Tholander, die sich der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels verschrieben hat, die Puzzlesteine seiner Erinnerung zusammenzusetzen. "Er war nie hasserfüllt", sagt seine Tochter und fügt hinzu: "Was geschehen war, war Teil seines Lebens." Und er war immer den Menschen zugewandt, ganz gleich welcher Herkunft.
Ein Platz auf dem Ehrenfeld in Friedrichshafen
In vielen Briefen setzte er sich bis zum Schluss dafür ein, dass die bis heute anonym bestatteten sowjetischen Zwangsarbeiter aus dem gesamten süddeutschen Raum auf dem Ehrenfeld des Friedhofs in Friedrichshafen Namen bekommen. Bei seinem letzten Besuch sei er sehr enttäuscht gewesen, dass es zwar einen wunderbaren Parkplatz gebe, aber diesbezüglich noch immer nichts geschehen war, erzählt Jeannine Casey.
Arbeit am Familienstammbaum
Jeannine Casey, die mit ihrem Mann Bruce in einem Vorort von Melbourne lebt, hat bis im vergangenen Jahr im November als Managerin einer Schule gearbeitet. "Jetzt, wo ich mehr Zeit habe, möchte ich an meinem Familienstammbaum arbeiten", sagt die Mutter von zwei Kindern, die bereits über 40 Jahre alt sind und ebenfalls Kinder haben.

Auch deshalb will sie Maybach sehen. Um besser zu verstehen, was damals geschah, um das Bild zu vervollständigen, obwohl sie weiß, dass der Betrieb nicht mehr so ist, wie er damals war. Wie erwartet ist der Besuch emotional. Kurz versagt ihre Stimme, als sie vom Bunker, den ihr privilegierter Vater bei Luftangriffen aufsuchen durfte, berichtet. Sie bekommt Fotos der Firma vor dem Krieg, eine Kopie der Personalkarte ihres Vaters und ist beeindruckt von der Zuwendung, die sie erfährt. Doch den Ort, an dem er gearbeitet hat, den darf sie nicht sehen. Das hat der Sicherheitsdienst verboten.
Zwangsarbeiter am Bodensee
Als im Jahr 1942 beinahe alle Männer des Deutschen Reichs eingezogen waren, ließ sich die Industrie und Versorgung des Landes nur noch mit Fremdarbeitern aufrechterhalten. 1944 arbeiteten dort sechs Millionen Zwangsarbeiter, darunter Frauen und Kinder. Alleine in Friedrichshafen stellten 14 000 bis 15 000 von ihnen über die Hälfte der damals 26 650 Einwohner zählenden Stadt. Darunter Kriegsgefangene, Zwangsverschleppte und Insassen des KZ-Außenlagers von Dachau in Raderach. Mit weit über 5000 Zwangsarbeitern bildeten "Ostarbeiter" aus der Sowjetunion, also Russen, Ukrainer oder Weißrussen, den größten Anteil. Es folgten die "Westarbeiter", Franzosen und Holländer, und ab 1943 italienische Kriegsgefangene. Die meisten von ihnen – etwa 4800 – waren bei Maybach beschäftigt, beinahe genauso viele im Luftschiffbau, aber auch in Handwerksbetrieben, der Stadtverwaltung und in landwirtschaftlichen Betrieben. Massenquartiere für Zwangsarbeiter befanden sich unter anderem auf dem Zeppelin-Werftgelände Hochstraße – Heinrich-Heine-Straße und in Allmannsweiler.