Die gute Nachricht: Nur 24 Prozent aller Übergriffe sind überhaupt „erfolgreich“, gehen also über den bloßen Versuch hinaus. Es lohnt sich also, sich zu wehren und daher auch zu wissen, wie man sich im unwahrscheinlichen Falle eines Übergriffs zur Wehr setzen kann.
Zahlen zum Risiko, Opfer zu werden
Wieso sprechen wir hier von „unwahrscheinlich“? Axel Uhlig und Ingo Wirth haben in ihrer Dissertation Opfergegenwehr bei sexuellen Übergriffen im öffentlichen Raum untersucht. Ihre Ergebnisse sind repräsentativ und auf die gesamte Bundesrepublik übertragbar. Die beiden Forscher kamen zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer „sexuellen Attacke“ im öffentlichen Raum zu werden, für Mädchen und Frauen bei 0,03 Prozent liegt. Das Risiko für Frauen ab 20 Jahren liegt sogar darunter. Am niedrigsten ist es für Frauen ab und über 39 Jahren.
Anlaufstellen für Frauen in Not und Opfer von (sexueller) Gewalt
Fremde Täter werden häufiger angezeigt
Generell ist bei Zahlen Vorsicht geboten. So erläutert Peter Härle vom Fachbereich Prävention des Polizeipräsidiums Konstanz: „Ein fremder Täter wird deutlich leichter angezeigt als jemand, den man kennt.“ So lauere nämlich die größte Gefahr nicht etwa draußen auf der Straße, sondern in einer Beziehung. Die Zahlen könnten das allerdings nicht korrekt widerspiegeln, da ein fremder Täter häufiger angezeigt werde.
Viele Faktoren beeinflussen Statistik
Auch heiße eine Zunahme von Sexualstraftaten in der Polizeistatistik nicht zwangsläufig, dass es tatsächlich mehr Übergriffe gegeben hat. „Da gibt es viele Faktoren. Durch #metoo etwa ist die Anzeigebereitschaft gestiegen“, sagt Härle. Auch die Sexualstrafrechtsreform im Jahr 2016 sorgte für eine erhöhte Anzahl an Anzeigen.
„Jedes Opfer ist eines zu viel“
Wieso die Polizei Workshops anbietet, wie Frauen „sicher unterwegs“ sind, obwohl die Wahrscheinlichkeit eines Übergriffs in der Öffentlichkeit so unwahrscheinlich ist, erklärt er salopp: „Jedes Opfer ist eines zu viel.“ Trotzdem lautet seine Botschaft genau wie die von seinem Mitarbeiter Peter Köstlinger, der die Workshops in Friedrichshafen begleitet: „Keine Panik!“
Und noch etwas will Köstlinger allen Frauen mitgeben, die sich draußen unsicher fühlen: „Täter sind feige.“ Auch dieser Umstand lässt sich durch Ergebnisse der zitierten Forscher belegen. So ist es einerseits belegt, dass die Täter sich gezielt Opfer suchen, die kleiner sind als sie und außerdem führte es in 81 Prozent der untersuchten Fälle zum Tatabbruch, wenn Dritte sich näherten.
Es macht also durchaus Sinn, besonders laut zu werden. Wem in einer Stresssituation die eigene Stimme versagt, der kann zu einem sogenannten „Schrei-Alarm“ greifen, den es im Waffenhandel zu kaufen gibt. Köstlinger gibt einen weiteren Hinweis dazu: „Aktiviert ihn und werft ihn weg.“ So könne der Angreifer den Schrei-Alarm nicht so einfach finden und etwa durch Zertreten ruhigstellen.
Von Waffen rät der Kriminalbeamte eher ab. Zu hoch sei das Risiko, dass der Täter diese entwenden und selbst davon Gebrauch machen könne. Sinnvoll sei neben dem Schrei-Alarm noch Pfefferspray und auch ein Kugelschreiber oder Schlüssel könne bei der Notwehr helfen. Ein Grundsatz gelte immer: „Seid ein unangehmes Opfer!“ Florian Nägele und Harald Beck vom Verein „Gewaltfrei durchboxen“ unterstützen diese Aussage und erklären, wie Notwehr aussehen könnte.

Schreien, sicher stehen und wehren
Wichtig finden sie dabei, dass man nicht zu viele Handgriffe und Situationen einübt. „Sonst kommt man in einer Notlage erst einmal ins Grübeln. Und da kommt es auf Geschwindigkeit an“, erläutert Beck. So verzichten sie auf die unterschiedlichen Szenarien, die viele aus herkömmlichen Selbstverteidigungskursen kennen und setzen stattdessen auf folgende drei Schwerpunkte.
1. Schreien, um Abstand zu gewinnen
Ob echter eigener Schrei oder Schrei-Alarm: Ein lauter Schrei, ein klares Stoppsignal sollte schnell und ohne zu zögern auf einen Übergriff oder einen versuchten Übergriff folgen. Um eine Verzögerung durch eine Schrecksekunde vorzubeugen, hilft es, zuhause zu üben. Je öfter man geübt, desto leichter fällt es, die Reaktion auch dann abzurufen, wenn man sich in einer Ausnahmesituation befindet.
2. Sicher stehen
Harald Beck macht vor, wie eine sichere Standposition aussehen könnte. Wichtig ist, dass man diese Position kennt und schnell einnehmen kann. Generell hilft ein sicheres Auftreten dabei, gar nicht erst als potenzielles Opfer identifiziert zu werden. Hier erinnern Nägele und Beck an Köstlingers Aussage: „Der Täter ist feige.“
3. Notwehr, um Abstand zu gewinnen
Als Tipp geben sie hierbei, nicht zu boxen, sondern mit der flachen Hand zuzuschlagen. Eine Ohrfeige sei sehr wirksam und mit der flachen Hand sei die Verletzungsgefahr für diejenige, die sich wehre, deutlich geringer als mit einer geballten Faust: „Bevor man anfängt, darüber nachzudenken, ist allerdings ein Schlag mit der Faust besser als gar keiner. Hauptsache, man gewinnt Abstand und kommt davon.“

Ziel des Schlags sollten empfindliche Stellen sein: beispielsweise das Ohr oder die Nase. Als Alternative zur klassischen Ohrfeige gibt es auch noch die Möglichkeit eine Art „Tatze“ zu machen und frontal zuzuschlagen. Harald Beck kommentiert: „Es muss wehtun. So hat man Zeit, wegzurennen.“
Sobald die Möglichkeit besteht: ab in Sicherheit. Sollte der Täter ernsthaft durch die Notwehr verletzt worden sein, sollte zusätzlich ein Rettungswagen gerufen werden. Erste Hilfe zu leisten ist hier selbstverständlich keine Pflicht.
Noch ein Tipp von Peter Köstlinger: Viele unangenehme Situationen lassen sich vermeiden. So empfiehlt er etwa, wenn jemand Unangenehmes in den Zug einsteigt, einen Gangplatz zu wählen, um nicht in die Ecke beziehungsweise ans Fenster gedrängt werden zu können.
