Der erste Zeugenaufruf im Polizeibericht am Tag nach dem Überfall klingt wenig dramatisch: Nach einer „Auseinandersetzung“ am 26. Mai abends gegen 19 Uhr werden vier junge Männer in der Unterführung des Stadtbahnhofs in Friedrichshafen von einer „etwas größeren Gruppe“ zunächst angepöbelt, dann mit „Schlägen, Tritten und offenbar auch einer Kette“ attackiert. Alle vier werden verletzt, zwei müssen ins Krankenhaus. Die unbekannten Angreifer suchen das Weite, meldet die Polizei.

Vater: „Wir fühlen uns alleingelassen“

Für die vier betroffenen Jungs hinterlässt dieser Überfall jedoch bleibende Narben, vor allem seelisch. Die 16- und 17-Jährigen sind aus Markdorf. Nach einem SÜDKURIER-Bericht über die Sicherheitslage in Friedrichshafen meldet sich der Vater eines Teenagers, um aus der Sicht seines Sohnes zu erzählen, was passiert ist. „Wir fühlen uns alleingelassen“, sagt Rüdiger G. Wir haben den Namen, der uns bekannt ist, geändert. Die Familien haben Angst vor weiteren Angriffen – die Eltern sind in großer Sorge um ihre Kinder. Selbst fünf Wochen nach dem Überfall habe die Polizei die Opfer für detaillierte Zeugenaussagen noch nicht kontaktiert.

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Auf dem Weg ins Kino

Die vier Freunde wollen ins Kino, fahren mit dem Zug zum Stadtbahnhof. Dort am Bahnsteig angekommen, habe sein Sohn aus dem Augenwinkel gesehen, wie eine Handvoll junger Männer aufsteht und hinter ihnen her geht. „Die Vier haben sich nichts dabei gedacht und sind durch die Unterführung in Richtung Franziskusplatz gelaufen“, erzählt der Vater.

Dann kommen jedoch zwei weitere Gruppen auf sie zu, eine Gruppe von einem anderen Bahnsteig und eine von vorn. „Sie waren umzingelt von zirka 15 überwiegend jungen Männern. Gesprochen haben sie nicht viel“, gibt Rüdiger G. die Schilderungen seines Sohnes wieder. Aus seiner Sicht hatten sich die jungen Männer offenbar dort verabredet, um jemanden zu überfallen und zu verletzen.

Die Bahnhofsunterführung wird gerade saniert, die Arbeiten stehen kurz vor dem Abschluss.
Die Bahnhofsunterführung wird gerade saniert, die Arbeiten stehen kurz vor dem Abschluss. | Bild: Cuko, Katy

Ohne Vorwarnung hagelt es Schläge

Ohne große Vorwarnung kassiert sein Junge einen Faustschlag gegen den Kopf und geht zu Boden. Der Angreifer tritt auf ihn ein, gezielt auf den Kopf. „Mein Sohn konnte sich zwar mit den Armen vor den schwersten Treffern schützen. Er hat jedoch Blutergüsse und Schürfwunden abbekommen“, schildert der Vater.

Einen Freund trifft es noch übler. Einer aus der Gruppe habe eine schwere Metallkette mit einem umklebten Griff aus der Hose gezogen. „Meiner Meinung nach war diese Kette nur für einen Zweck gemacht und mitgeführt worden. Die Jungs haben noch zwei andere damit gesehen“, sagt Rüdiger G. Mehrmals sei dem Jungen mit der Kette über den Rücken und Hinterkopf geschlagen worden. Er trägt teils offene Blutergüsse davon. Noch Wochen danach sieht man die genauen Umrisse der einzelnen Kettenglieder auf dem Rücken des Jungen. Die beiden anderen Opfer kommen mit Prellungen und blauen Flecken davon.

Der Vorplatz am Stadtbahnhof ist der Ort, an dem sich viele Häfler unsicher fühlen.
Der Vorplatz am Stadtbahnhof ist der Ort, an dem sich viele Häfler unsicher fühlen. | Bild: Cuko, Katy

Der Überfall dauert nur wenige Minuten, bis die Angreifer in Richtung Bahnhofsvorplatz das Weite suchten. Als sein Sohn seine Sachen wieder eingesammelt hat, ruft er selbst die Polizei. In einer Seitenstraße hätten die Beamten die vier Jungs befragt und Bilder von den Verletzungen gemacht. Statt sie sofort ins Krankenhaus bringen zu lassen, werden die Jugendlichen nur gefragt, ob man einen Rettungswagen holen soll. Dieses Vorgehen ärgert Rüdiger G. bis heute. „Die Jungs sind minderjährig. Keiner konnte nach diesem Überfall klar denken. Die standen unter Schock oder Adrenalin. Und die Polizei lässt die Jungs ziehen.“

Hilfe der Kino-Mitarbeiter „einziger Lichtblick“

Auf dem Weg zum Kino ruft der Sohn zu Hause an. Im Hintergrund hört die Frau von Rüdiger G., wie jemand weint und sich erbricht. Sie verständigt sofort den Notarzt. An die vier Jungs kann sich Tom Rudnick, Serviceleiter im Cineplex-Kino, noch sehr gut erinnern. „Sie wollten die Tickets stornieren, haben ziemlich gestresst gewirkt.“ Als er fragt, was los sei, hätten sie ihm von dem Überfall erzählt. Einer habe seine Verletzungen gezeigt, der sei „übel zugerichtet“ gewesen. Er versucht zu helfen, ihnen was zu trinken gegeben. Und natürlich die Tickets erstattet. Dieses empathische Verhalten der Angestellten sei „einer der wenigen Lichtblicke“ in der ganzen Geschichte, sagt Rüdiger G.

Mit zwei Rettungswagen werden die Jungs ins Krankenhaus gebracht. In der Notaufnahme geht es einigermaßen chaotisch zu. „Ich kann mir nicht erklären, warum die Jungs nach offensichtlichen Kopfverletzungen nicht zur Beobachtung für ein paar Stunden im Krankenhaus aufgenommen wurden“, sagt Rüdiger G. Selbst der eine Junge nicht, der durch die Schläge mit der Kette auch eine Platzwunde am Kopf und eine schwere Gehirnerschütterung davongetragen hatte. „Das wurde aber erst später beim Hausarzt festgestellt“, erzählt der Markdorfer Vater.

Drei Beamte der Bundespolizei laufen Streife am Stadtbahnhof Friedrichshafen.
Drei Beamte der Bundespolizei laufen Streife am Stadtbahnhof Friedrichshafen. | Bild: Cuko, Katy

Das Ganze ist fünf Wochen her, als sich der Familienvater an unsere Zeitung wendet. „Die Polizei hatte sich bis dahin nicht zur weiteren Zeugenbefragung bei uns gemeldet.“ Als ob sich keiner dafür interessiere, was passiert ist – so jedenfalls fühlt es sich für die Familien an. Wie sollen Täter ermittelt werden, wenn die Opfer nicht befragt werden? Er frage sich, ob solche Ereignisse bewusst oder unbewusst verharmlost werden. Die vier Jungs seien so weit wieder okay, aber deren Psyche angeschlagen.

Bundespolizei ermittelt jetzt

Die Ermittlungen in diesem Fall führt die Bundespolizeiinspektion Konstanz, weil der Überfall in der Unterführung und damit auf dem Gelände des Stadtbahnhofs passiert ist. Ermittelt werde gegen eine „Vielzahl von Personen“ wegen gefährlicher Körperverletzung, bestätigt die Polizei auf unsere Anfrage. Zum derzeitigen Stand der Ermittlungen könne man keine Auskunft geben. Vor wenigen Tagen veröffentlicht die Bundespolizeiinspektion nun einen Zeugenaufruf mit detaillierten Angaben. Laut Rüdiger G. habe in der vergangenen Woche eine Beamtin mit ihrem Sohn telefoniert und um weitere Angaben gebeten.

Auch der Polizeichef ist in Sorge

Dass solche Fälle vermehrt zu verzeichnen sind, darauf hatte der Ravensburger Polizeipräsident Uwe Stürmer bereits Mitte Juni bei der Vorstellung des Sicherheitsberichts für 2023 im Gemeinderat hingewiesen. Laut Kriminalstatistik gab es 2023 in Friedrichshafen insgesamt 70 Fälle mehr in der Gewalt- (180) und Straßenkriminalität (705). Häufig handelte es sich dabei um gefährliche Körperverletzung, die aus der Gruppe heraus begangen wird, so Stürmer bei der Vorstellung der Zahlen. „Das müssen wir weiter beobachten“, erklärte Uwe Stürmer.

Für Rüdiger G. sind die Zustände am Bahnhof und dessen Umgebung nicht mehr tragbar. „Wenn man nicht mal Sonntagabend gegen 19 Uhr dort ankommen kann, ohne Angst haben zu müssen, ist diese Stadt für uns erstmal tabu.“