Schlecht beleuchtete Unterführungen, leere Bahnsteige, der Heimweg nach der Party: Die Angst, belästigt oder gar attackiert zu werden, hat wohl jede Frau schon mal heimgesucht. „Das Thema ist gruselig, ich weiß. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie zum Opfer werden, ist sehr gering“, sagt Peter Köstlinger und hat sogar eine statistische Zahl parat. „Die liegt bei 0,03 Prozent.“
„Ich kann aus Ihnen in einer Stunde keine Kampfmaschine machen. Aber sie sollen sich ein bisschen besser fühlen, wenn sie hier raus gehen.“Peter Köstlinger, Kriminalhauptkommissar
Keine Frage: Der 1,90 Meter große, bullige Kriminalhauptkommissar bemüht sich, den 20 Frauen, die vor ihm im Schulungsraum sitzen, die Angst ein Stück weit zu nehmen. Nicht nur mit Zahlen, sondern am Ende auch ganz praktisch. Was tun, wenn eine Frau wirklich mit einem Angriff konfrontiert ist? „Ich kann aus Ihnen in einer Stunde keine Kampfmaschine machen. Aber sie sollen sich ein bisschen besser fühlen, wenn sie hier raus gehen“, sagt er.
„Sicher. Unterwegs. Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum“ heißt das Präventionsprogramm, das Köstlinger und seinem Team den Rahmen für den kostenlosen Abendkurs bietet, den die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt, Claudia Macke, mit organisiert hat. Da ist Harald Beck, der Boxtrainer, der unter anderem schwierigen Jugendlichen zeigt, wie sie sich „Gewaltfrei durchboxen“. Oder Streetworker Florian Nägele, der jahrelang auch im rechten Milieu unterwegs und mit Gewalt hautnah konfrontiert war, heute zusätzlich Anti-Aggressivitäts- und Coolness-Coach ist. Und die Polizistin Melike Gündemir, die von Frau zu Frau besser zeigen kann, wie man sich gegen Männer wehrt, die übergriffig werden.

Sie alle wollen das Selbstbewusstsein der Frauen in diesem Kurs stärken, sodass sie in gefährlichen Situationen kalkuliert handeln können. Seit 2019 schulen sie Frauen wieder und wieder, selbst online mitten in der Corona-Pandemie. Angesprochen fühlt sich offenbar jede Altersgruppe. Die Jüngste in diesem Kurs geht noch als Teenagerin durch, die Älteste ist über 60. Auch eine fast blinde Frau ist unter ihnen.
Besser nicht kopflos sein: kalkuliert und überlegt handeln
Peter Köstlinger erzählt, gestikuliert, zeigt, erklärt fast zwei Stunden lang, worauf die Frauen achten müssen. Sein Credo: Situationen vermeiden, in denen man zum Opfer werden könnte. Also vorher darüber nachdenken, ob man im Dunkeln die Abkürzung durch die Unterführung nimmt oder nicht doch die beleuchtete Hauptstraße. „Lieber das Geld in ein Taxi nach Hause statt auf der Party in den letzten Drink investieren“, sagt der Kriminalexperte.
Und wenn es doch passiert, man zur falschen Zeit am falschen Ort ist? Peter Köstlinger seziert diese Situation förmlich, hält sich dabei an die Erkenntnisse eines Kriminal-Wissenschaftlers, der über 300 Vergewaltigungen akribisch untersucht hat. Welchen Tatort bevorzugen Männer, wann greifen sie an? Welche Täter- und welche Opfertypen gibt es? Wann bricht der Täter seine Tat ab? Das Fazit der Experten ist eindeutig: „Aktive Gegenwehr lohnt sich“, fasst Köstlinger zusammen. 84 Prozent der Vergewaltigungen wurden demnach abgebrochen, wenn sich das Opfer wehrte.
„Reden, schreien, flüchten“
Und wie? „Reden, schreien, flüchten“, sagt er knapp. Köstlinger rät, alles zu tun, um auf sich aufmerksam zu machen und so Helfer oder wenigstens Zeugen zu gewinnen. Beide stören den Täter enorm. Bei fünf Leuten, die der Szene beiwohnen, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben, sei die Frau sicher, sagt er. Weil der Täter die Kontrolle verliert und ablässt. „Euer Schreien ist die größte Waffe, die ihr habt“, schärft Köstlinger den Kursteilnehmerinnen ein.
„Euer Schreien ist die größte Waffe, die ihr habt.“Peter Köstlinger, Kriminalprävention im Polizeipräsidium Ravensburg
Doch wie schwierig selbst das sein kann, erfahren die Frauen im praktischen Teil bei Florian Nägele. „Wenn du verstummst, der Blick weg geht, hat er dich“, warnt er. „Hau rein in die Stimme, was du hast.“ Dabei den Täter Siezen, nicht nur verbal, sondern sich körperlich Abstand halten, nicht provozieren (lassen): Nicht jede Frau schafft es in dieser Übung, aus sich heraus zu gehen.

Kämpfen sei die allerletzte Option und nicht zu empfehlen, weil „frau“ in den meisten Fällen nicht gewinnen kann, erklären alle Referenten. Die Polizei rate vom Gebrauch diverser Waffen wie Messer, Reizgas oder Pfefferspray jedenfalls ab. Peter Köstlinger zeigt sie trotzdem, erklärt aber auch die Nachteile beispielsweise einer Schreckschusspistole, die man mit dem „Kleinen Waffenschein“ vom Landratsamt für 96 Euro legal besitzen und bei sich führen darf. Doch wenn sie der – körperlich meist überlegene – Täter entwendet und sie gegen das Opfer einsetzt, werde die Sache noch schlimmer.
„Wenn du verstummst, der Blick weg geht, hat er dich. Hau rein in die Stimme, was du hast.“Florian Nägele, Streetworker und Antiaggressivität-Coach
Peter Köstlinger empfiehlt stattdessen, eine lichtstarke Taschenlampe oder ein sogenanntes Schrei- oder Schrillgerät zu benutzen. In der Not den Stecker ziehen, das kleine, laut brüllende Ding wegwerfen – „dann hat der Täter ein Problem“ sagt er. Klein, handlich und trotzdem eine „tolle Waffe“ könne aber auch ein Metallkugelschreiber sein. Der muss dann freilich schon in der Hand liegen, wenn „frau“ sich bedroht fühlt.

Eine Alternative wäre der sogenannte Kubotan, eine Nahkampfwaffe, die – mit Entschlossenheit geführt – beim Angreifer fiese Verletzungen verursachen kann. Wie das geht, zeigt Harald Beck. Jede Frau darf mit einem Übungs-Kubotan und später auch mit der bloßen Faust auf die Box-Pratze in seiner Hand auf Höhe des Schlüsselbeins einhauen – mit aller Kraft. „Vielleicht haben Sie nur diese eine Chance“, sagt er.

Dass in Notwehr alles erlaubt ist, was einen übergriffigen Mann abhält, darin bestärkt Melike Gündemir die Kursteilnehmerinnen. Eine junge, zierliche Frau erzählt im Boxraum, dass sie in einer solchen Situation war und nicht darüber nachgedacht hätte, „ob ich ihm wehtun darf“. Der Mann habe sie in die Ecke getrieben. Der Tritt in sein Geschlechtsteil sei „die einzige Chance“ gewesen, sagt sie fast entschuldigend. Der Kurs ist für sie ein Mittel, diesen Angriff zu verarbeiten.

Trotzdem: Auch Melike Gündemir rät prinzipiell davon ab, ohne Kampferfahrung in die direkte Konfrontation zu gehen. Kommt der Angreifer zu nahe, könne ein Schock- oder Abwehrschlag gegen die Brust für den Augenblick sorgen, um wegrennen zu können. Aber die Polizistin zeigt auch, wie man sich aus dem Schwitzkasten befreit, wo der Leberhaken „sitzen“ muss oder was zu tun bleibt, wenn der Angreifer einen von hinten in die Mangel nimmt.

Nach fast vier Stunden – drei waren geplant – ist der Kurs spät abends zu Ende. Das Expertenteam entlässt die Frauen in die Dunkelheit. Nur zwei haben sich Begleitung bis zu ihrem Auto erbeten.