Friedrichshafen ist nicht mehr der einzige Rettungshubschrauber-Standort, der sich gegen die Verlegung der fliegenden Notärzte wehrt. Der am Leonberger Krankenhaus stationierte „Christoph 41“ soll in Richtung Süden nach Tübingen umziehen, „Christoph 45“ vom Klinikum Friedrichshafen bis zu 13 Kilometer nach Norden. Für beide Standorte wurden Online-Petitionen gestartet, die das Quorum erfüllt haben. In Friedrichshafen wurden über 30 000 Stimmen gegen die Verlegung gesammelt; in Leonberg sind es mehr als 21 000.
„Damit wehren sich bereits über 50 000 Menschen gegen die geplante Verschlechterung der Gesundheitsversorgung in zwei Regionen“, sagt Volker Wenzel. Er ist Chefarzt unter anderem für Notfallmedizin am Medizin Campus Bodensee (MCB), zu dem das Klinikum Friedrichshafen gehört.
Gutachten anhand von Rechenmodellen
Beide Petitionen richten sich an das baden-württembergische Innenministerium. Das gab bei einem Münchner Institut eine „Struktur- und Bedarfsanalyse der Luftrettung in Baden-Württemberg“ in Auftrag. Die Gutachter haben dafür statistische Daten ausgewertet und empfehlen anhand von Rechenmodellen die Verschiebung beider Helikopter-Standorte. Begründung: Damit sollen errechnete Versorgungslücken geschlossen werden, um Menschen bei Notfällen dort schneller medizinisch zu versorgen, darunter in einem dünn besiedelten Bereich im Kreis Sigmaringen.
Wenzel: „Versorgungslücken gibt es nicht“
Das Kuriose für Wenzel: Diese „Versorgunglücken“ wären – bis auf ein unbewohntes Fleckchen im Odenwald – alle binnen 20 Minuten erreichbar. Vorausgesetzt, das Gutachten hätte eine realistische und keine berechnete Fluggeschwindigkeit zugrunde gelegt und die Vorab-Alarmierung mit bis zu 90 Sekunden Zeitgewinn einbezogen. Die werde an den Luftrettungs-Standorten in Karlsruhe und Dinkelsbühl bereits praktiziert. Damit vergrößere sich der Einsatzradius jedes Rettungshubschraubers im Land um rund zehn Kilometer. „Die ‚Versorgungslücke‘ in Sigmaringen wird so von fünf Hubschrauber-Standorten abgedeckt“, sagt Volker Wenzel.

Warum das Innenministerium angesichts dieser Sachlage die Verlegung von drei Hubschrauber-Standorten forciert, die die Krankenkassen Millionen von Euro kosten werden, macht ihn ratlos. „Christoph 45“ soll in einen Korridor sieben bis 13 Kilometer nördlich verlegt werden, was zwei bis vier Flugminuten entspricht. Geprüft wird nach früheren Angaben des Innenministeriums unter anderem ein Standort in Bavendorf (Landkreis Ravensburg).
Der erfahrene Notfall-Mediziner ist gleichzeitig Wissenschaftler mit einer Publikationsliste von mehr als 300 Fachartikeln, die von unabhängigen Gutachtern bewertet wurden, sowie mehreren Büchern. So hat er an den Richtlinien mitgearbeitet, die international in der Herz-Lungen-Wiederbelebung gelten. Ihn wurmt enorm, dass der zuständige Staatssekretär Winfried Klenk (CDU) noch nicht einmal die sachlichen Fragen beantwortet, die der MCB zum Gutachten gestellt habe – geschweige denn die Kritik daran entkräftet. Dem Gutachten liegen aus seiner Perspektive methodische Fehler zugrunde. „Unsere Argumente werden jedoch ignoriert“, sagt er.

Bei jeder Ortsumgehung würden die Bürger heute beteiligt, „aber bei solch einem sensiblen Thema wie der Luftrettung lehnt man das ab“, sagt Professor Wenzel. Ganz im Gegenteil: „Beteiligung heißt für das Innenministerium augenscheinlich, der Bevölkerung mitzuteilen, was man macht, aber an Meinungen oder gar konstruktiver Kritik gar nicht interessiert ist. Das ist eine Sichtweise von vorgestern.“
Tatsächlich ist das in einem Schreiben vom 3. August dieses Jahres von Staatssekretär Klenk an Wenzel als auch Oberbürgermeister Andreas Brand und die Klinikum-Geschäftsleitung nachzulesen. Darin heißt es, dass eine Beteiligung der Öffentlichkeit „etwa durch Pressearbeit oder die Veröffentlichung des Gutachtens“ erfolge. Fachlich sehe er „keine inhaltlich tragenden Argumente“. Letztlich wird den Häflern eine „Kampagne“ unterstellt, „die bei mir persönlich alles andere als einen positiven Eindruck hinterlassen hat“, schreibt der Staatssekretär.
„Herr Klenk sollte die Bürger fachlich überzeugen und nicht persönlich beleidigt sein.“Prof. Dr. Volker Wenzel, Chefarzt der Klinik für Notfallmedizin
Darauf angesprochen, findet Volker Wenzel klare Worte: „Herr Klenk sollte die Bürger fachlich überzeugen und nicht persönlich beleidigt sein.“ Das Innenministerium dürfe nicht auf der Basis eines bestellten Gutachtens, das fast eine Viertel Million Euro gekostet habe, die Daseinsvorsorge verändern, ohne mit den Leuten vor Ort zu reden. „Man verweigert uns den Dialog“, beklagt der Mediziner, der auf die 40-jährige Expertise in der Luftrettung am Standort Friedrichshafen verweist. Auf die Forderung, das Gutachten von unabhängigen Experten oder Fachgesellschaften prüfen zu lassen, gehe Klenk nicht ein. Und das ergänzende Gutachten halte das Innenministerium unter Verschluss.

Dabei gebe es sachlich weitere Argumente gegen die geplante Verlegung. So werde die Randlage von Friedrichshafen am Bodenseeufer kritisiert. Gleichzeitig empfehle das Gutachten einen neuen Rettungshubschrauber-Standort in Lahr nur elf Kilometer entfernt von der französischen Grenze. Genauso wenig nachvollziehbar sei, dass die Helikopter in Mannheim und Ludwigshafen stationiert bleiben sollen, obwohl der Abstand nur zehn Kilometer betrage. Warum das Innenministerium nun plötzlich auch Mengen als Hubschrauber-Standort prüfe, obwohl der im Gutachten gar nicht aufgeführt sei, passe ebenso wenig zur Aussage, das Gutachten werde „eins zu eins“ umgesetzt.
Innenministerium hält an Verlegung fest
Tatsächlich hält das Innenministerium an den geplanten Verlegungen fest. Das Regierungspräsidium Tübingen wurde mit der Standortsuche beauftragt und soll vergleichbare Kriterien aufstellen. Das Ergebnis dieser Umsetzungsbewertungen liege aber noch nicht vor, teilt ein Sprecher des Innenministeriums mit. Das rechne „mit einem mehrjährigen Verfahren“.
Jetzt ist die Politik gefragt
So bleibt für die „fliegenden Notärzte“ in Friedrichshafen und auch Leonberg nur die Hoffnung auf eine politische Entscheidung. Die von über 30 000 Menschen unterstützte Petition vom Klinikum liegt dem zuständigen Ausschuss zur Bearbeitung vor. Das Innenministerium muss fachlich dazu Stellung beziehen. „Über das weitere Vorgehen entscheidet der Petitionsausschuss“, so der Ministeriumssprecher.