Seit das Luftrettungs-Gutachten auf dem Tisch liegt, rätseln viele Beteiligte, warum „Christoph 45“ diesen „Katzensprung“ nach Norden verlegt werden soll. 13 Kilometer entspricht maximal vier Flugminuten für Rettungshubschrauber. Und der am Klinikum Friedrichshafen stationierte Helikopter wird eben nicht nur von der Rettungsleitstelle hier angefordert, sondern auch von Konstanz, Tuttlingen, Zollernalb, Schwarzwald-Baar, Biberach, Donau Iller und Allgäu.

Geplanter Standort-Wechsel pure Kosmetik

Nun soll „Christoph 45“ vorzugsweise nach Bavendorf, allerdings ganz ohne klinische Anbindung. Kosten von mehreren Millionen Euro erscheinen für diesen „kosmetischen“ Standortwechsel schlicht abenteuerlich, sagt Volker Wenzel. Er ist Chefarzt der Notärzte am Klinikum Friedrichshafen und hat mit politischer Schützenhilfe im Namen des Medizin Campus Bodensee (MCB) eine Online-Petition auf den Weg gebracht. „Christoph bleibt hier!“ lautet die Forderung, die bereits über 16 000 Menschen unterstützen (www.openpetition.de).

Doch der Protest scheint in Stuttgart zu verhallen. Das Innenministerium bestätigt auf Anfrage, dass die Empfehlungen im Gutachten „vollumfänglich umgesetzt“ werden sollen. So hatte es der zuständige Ministerialdirektor Wilfried Klenk (CDU) dem MCB als auch der Stadt Friedrichshafen mitgeteilt.

Seit 40 Jahren fliegt „Christoph 45“ Rettungseinsätze vom Klinikum Friedrichshafen aus. Jetzt wird der Standort in Frage ...
Seit 40 Jahren fliegt „Christoph 45“ Rettungseinsätze vom Klinikum Friedrichshafen aus. Jetzt wird der Standort in Frage gestellt. | Bild: MCB

Das ist verwunderlich. Denn in der zweiten Februarwoche hatte Klenk in einer Videokonferenz auch zugesagt, „dass der Standort Regio-Airport Mengen-Hohentengen mit geprüft und gewertet“ wird, teilte der Sigmaringer CDU-Landtagsabgeordnete Klaus Burger mit. Dabei taucht Mengen im Luftrettungs-Gutachten gar nicht auf.

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Zu den Teilnehmern der Videoschalte mit Klenk gehörte neben Burger auch Stefanie Bürkle, Landrätin in Sigmaringen. Sie ist mit Innenminister Thomas Strobl und in der Landes-CDU bestens vernetzt und gehört aktuell zu den fünf Christdemokraten, die mit den Grünen in Stuttgart die Neuauflage der Koalition verhandeln sollen. Dabei geht es den Nachbarn offensichtlich nicht schnell genug, „Christoph 45“ ins eigene Gäu zu lotsen. Vielleicht fünf Jahre warten zu müssen, bis der Rettungshubschrauber neu stationiert wird, sei zu lange: „Eine Interimslösung am Standort Mengen-Hohentengen, welche von allen Beteiligten vorgeschlagen wird, wäre schnell zu realisieren. Der Schutz der unterversorgten Bevölkerung im Landkreis Sigmaringen wäre dann gesichert“, schrieb Klaus Burger in seiner Pressemitteilung.

Bild 2: Luftrettungs-Gutachten mit vielen Fragezeichen: Sachlich notwendig oder politisch motiviert?
Bild: Schönlein, Ute

Unterversorgt? Glaubt man der Analyse des MCB zum Gutachten, gibt es diese Versorgungslücke nördlich von Sigmaringen gar nicht, die als Grund für die Verlegung von „Christoph 45“ genannt wird. Volker Wenzel hat sich nach eigenem Bekunden mehrere Nächte um die Ohren geschlagen, um die Argumente im Gutachten zu prüfen. Sein Fazit: Die „Versorgungslücke“ entstehe nur durch die zu gering angesetzte Fluggeschwindigkeit der Rettungshubschrauber und ohne die Vorab-Alarmierung zu berücksichtigen.

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Das Innenministerium kontert auf Anfrage, dass „die durch das Klinikum Friedrichshafen vorgetragene Kritik auf der Sachebene nicht verfängt“. Die Gutachter hätten mit einem Simulationsmodell verschiedene Szenarien berechnet. Dabei sei „jeweils das gesamte Notarztaufkommen – dies sind konkret über 290 000 Notarzteinsätze sowie rund 14 000 Hubschraubereinsätze – für das Gesamtjahr 2018 berücksichtigt“ worden. Mit anderen Worten: Das Gutachten nimmt eine berechnete Fluggeschwindigkeit für alle Einsätze an – egal wo gestartet und gelandet wird.

„Um nicht völlig unglaubwürdig dazustehen, muss das Innenministerium jegliche Kritik zurückweisen.“
Volker Wenzel, Chefarzt am Medizin Campus Bodensee
Prof. Dr. Volker Wenzel
Prof. Dr. Volker Wenzel | Bild: Klinikum Friedrichshafen

Für Volker Wenzel ist diese Pauschalrechnung ungefähr so, als wenn man für alle Autos auf den Autobahnen von Baden-Württemberg eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 75 Stundenkilometer annimmt. Doch diese Stellungnahme überrascht ihn nicht. „Um nicht völlig unglaubwürdig dazustehen, muss das Innenministerium jegliche Kritik zurückweisen“, sagt er. Warum das Ministerium dann ein zweites Gutachten beauftragt hat, das weder publiziert noch dem MCB zur Verfügung gestellt wird, versteht er nicht. Für den Chefarzt sieht es so aus, dass sich das Innenministerium ein Gutachten als „Feigenblatt“ bestellt hat, um Änderungen durchzusetzen, ohne eine unabhängige Prüfung des Vorgangs zuzulassen. „Politik sollte glaubwürdiger sein als gekaufte Meinungen zu verbreiten“, schimpft der Mediziner, der selbst wissenschaftlich publiziert.

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Und nun? Wie die Pressestelle des Innenministeriums mitteilt, wurden die Regierungspräsidien bereits beauftragt, mögliche Standorte für die Verlegung des Hubschraubers laut Gutachterempfehlung zu prüfen und zu bewerten. Ein Ergebnis liege noch nicht vor. Erst dann könne das Innenministerium konkrete Standorte festlegen.

Als Ersatz für Friedrichshafen kämen mehrere in Betracht. Nur wenn sich hier im Suchraum von sieben bis 13 Kilometer nördlich kein geeigneter Standort finde, müsse die Prüfung ausgedehnt werden. Dann würden „alle an das Innenministerium herangetragenen Standortvorschläge geprüft“, teilt die Pressestelle mit. Mengen-Hohentengen zum Beispiel.