Dr. Wenzel, gibt es für Sie in diesem Gutachten Argumente, die für eine Verlegung des Rettungshubschraubers weg von Friedrichshafen sprechen?

Nein, ich weiß keins. Wir haben uns ja alles angeschaut. Selbst das Argument mit dem Nebel taugt nicht. „Christoph 45“ war im Indexjahr 2018 an 34 Tagen nicht im Einsatz, das ist richtig. Aber davon waren nur 15 Tage Nebel. Das ist genauso viel wie am Standort Baden-Baden und sogar weniger als in Ulm. An 19 Tagen wurde er von der Rettungsleitstelle schlichtweg nicht alarmiert.

Prof. Dr. Volker Wenzel ist Chefarzt und Zentrumsdirektor der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und ...
Prof. Dr. Volker Wenzel ist Chefarzt und Zentrumsdirektor der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie und damit auch Chef der Notärzte. Seit vier Jahren ist er am Medizin Campus Bodensee tätig. Zuvor war er 25 Jahre lang an Universitäts-Kliniken beschäftigt und auch an der Erstellung von klinischen Richtlinien beteiligt. | Bild: mcb

Im Gutachten steht, dass „Christoph 45“ verlegt werden soll, um die Versorgungslücke nördlich von Sigmaringen zu stopfen. Lohnt sich das angesichts der enormen Kosten von mehreren Millionen Euro?

Wenn man die Landkarte nimmt und Kreise um die heutigen Hubschrauber-Standorte zieht, wie das im Gutachten gemacht wurde, dann ist diese Lücke da. Das muss man zugeben. Schaut man sich das aber näher an, sieht das ganz anders aus. In der sogenannten „Versorgungslücke“ nördlich von Sigmaringen sind zwei Rettungshubschrauber innerhalb von 20 Minuten, und drei weitere decken den gesamten Raum innerhalb von 22 Minuten ab. Das ist keine Versorgungslücke, sondern meiner Meinung nach Wunschdenken. Wenn unser Hubschrauber weg ist, kommt nach zehn Minuten der von St. Gallen. Dann kommen aber keine drei weiteren Hubschrauber innerhalb von 20 Minuten, die brauchen wesentlich länger.

Konzentrische Kreise um die heutigen Luftrettungs-Standorte zeigen laut Gutachten eine Versorgungslücke nördlich von Sigmaringen. Würde ...
Konzentrische Kreise um die heutigen Luftrettungs-Standorte zeigen laut Gutachten eine Versorgungslücke nördlich von Sigmaringen. Würde man die Vorab-Alarmierung und realistische Flugzeiten der Hubschrauber berücksichtigen, gäbe es dieses „Loch“ nicht, sagt MCB-Chefarzt Volker Wenzel. | Bild: Schönlein, Ute

Sie haben das Gutachten detailliert analysiert. Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

Die Strukturanalyse basiert zum Teil auf Annahmen, die unrealistisch sind. Ein Beispiel: Die Gutachter gehen von einer Geschwindigkeit des Hubschraubers von 207 km/h aus. Unser Pilot aber sagt, stimmt nicht, der fliegt mit 230 km/h. Und Hersteller Airbus sagt: sogar noch schneller. Das heißt: Bei der im Gutachten angenommenen Geschwindigkeit kommt „Christoph 45“ in 20 Minuten inklusive fünf Minuten für Start und Landung 52 Kilometer weit. Nimmt man die Angaben unseres Piloten, schafft er schon 57 Kilometer in der gleichen Zeit. Je nach Geschwindigkeit, mit der der Hubschrauber unterwegs ist, wird diese Versorgungslücke also größer oder kleiner.

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Sie sagen also, dass die Versorgungslücke herbei gerechnet wurde?

Nicht nur das. Die Vorab-Alarmierung wurde nicht berücksichtigt. Die bringt einen zusätzlichen Zeitgewinn von 60 bis 90 Sekunden. Vorab-Alarmierung bedeutet, dass bei einem Notruf bereits während der Abfrage durch den Disponenten in der Leitstelle entschieden wird, dass ein Rettungshubschrauber gebraucht wird. Dann kann die Besatzung bereits zum Helikopter laufen, die Turbine anwerfen und starten. Dadurch wird der Einsatzradius noch einmal um bis zu fünf Kilometer erweitert – oder auf 1500 Quadratkilometer in der Fläche. Und mit dieser Rechnung erreichen die Hubschrauber aus Villingen-Schwenningen und Ulm die „Versorgungslücke“ in Sigmaringen überlappend binnen 20 Minuten.

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Warum steht dann unterm Strich die Empfehlung, „Christoph 45“ müsse zwei bis drei Flugminuten nach Norden verlegt werden? Haben Sie dafür eine Erklärung?

Ich kann nur mutmaßen, aber wenn man nur Schablonen auf der Landkarte ohne terrestrische Hindernisse hin und her schiebt, dann erscheint das tatsächlich sinnvoll. Aber so hat man es vor 50, 60 Jahren gemacht. Man muss doch genau schauen, wo die Ressourcen am meisten bringen. Der Bevölkerungsschwerpunkt liegt hier am See. Trotzdem wird empfohlen, der Hubschrauber soll sieben bis 13 Kilometer nach Norden. Das ist Kosmetik, mehr nicht. Und mit Blick auf die „Versorgungslücke“ in Sigmaringen wäre das ein marginaler Gewinn bei einem Kosteneinsatz von mehreren Millionen Euro und einer deutlichen Verschlechterung der notfallmedizinischen Gesundheitsversorgung der Menschen am Bodensee.

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Was meinen sie mit marginalem Gewinn?

In besagtem Gebiet gibt es kaum Einsätze, weil die Gegend nur dünn besiedelt ist. Das heißt, wenn wir den Hubschrauber nach Bavendorf verlegen, dann erreichen wir einen Patienten mit den Tracer-Diagnosen Herzinfarkt, Schlaganfall, schwere Verletzung und Schädel-Hirn-Trauma nördlich von Sigmaringen zwar schneller, aber 36 dieser Patienten am nördlichen Bodenseeufer später.

Wie ist der Stand der Dinge? Gibt es Rückmeldungen vom Innenministerium in Stuttgart auf die Stellungnahme des MCB zum Gutachten?

Ja, das ist interessant. CDU-Staatssekretär Klenk hat unsere Argumente nicht widerlegen können, bezeichnete unsere Argumentation aber als „zu emotional“. Er hat noch ein zweites Gutachten aus München eingeholt, was er uns aber nicht zur Verfügung stellt. Seine Antwort blieb wolkig. Zwei Wochen später allerdings hat er den Sigmaringern die Prüfung des Standorts Mengen zugesagt. Mengen wird in dem Gutachten noch nicht einmal erwähnt, weil es inhaltlich keinen Sinn macht. Uns hat er hingegen geschrieben, die Landesregierung beabsichtige, das Gutachten vollumfänglich durchzusetzen, sie seien nicht verhandlungsbereit. Obendrein wird die Hilfsfrist für Notärzte abgeschafft, wodurch die Intention des Luftrettungsgutachtens komplett ins Leere geht.

Die DRF-Luftrettungsstation in Friedrichshafen ist direkt am Klinikum Friedrichshafen.
Die DRF-Luftrettungsstation in Friedrichshafen ist direkt am Klinikum Friedrichshafen. | Bild: DRF Luftrettung

Das klingt eher nach einer politischen Entscheidung denn einer für eine bessere medizinische Versorgung?

Die Politik gibt einem Gutachter Geld, der macht eine Empfehlung, und die Politik sagt: Super, das setzen wir so um! Es gibt hier keinerlei unabhängige Prüfung etwa durch Fachgesellschaften. Die Krankenkassen als Kostenträger sollen das Ganze bezahlen, sind aber bei der Fragestellung des Gutachtens nicht involviert worden, und die Rettungsdienste und Krankenhäuser erst recht nicht. Wenn ich als medizinischer Wissenschaftler eine neue Intervention einführen möchte, dann muss ich die beweisen und die Daten auch meinen Kritikern zur Verfügung stellen und bewerten lassen. Hier ist es im Prinzip so, dass sich der Staatssekretär mit dem Gutachter einigt und das wird dann umgesetzt. Das verstehe ich nicht, denn es geht ja darum, die Versorgung besser zu machen, nicht schlechter. Daher haben wir auch unsere Petition http://www.openpetition.de/!http://christoph45bleibt initiiert, die bisher über 15 000 Unterzeichner hat, um der Landesregierung einen zeitgemäßen Dialog abzuverlangen.