Matti hockt scheinbar eingequetscht zwischen zwei Baumstämmen und schreibt, sein Heft auf den Knien jonglierend. Der Platz, den er sich ausgesucht hat, scheint unbequemer nicht sein zu können. Doch für den Neunjährigen ist es der „schönste Arbeitsplatz“, wie er versichert. So wie für Julina, die bäuchlings auf einem Holzpodest liegt. Oder Sebastian, der wie Ole stehend seine Nase ins Buch steckt.

Seit Beginn des Schuljahres verlässt die Familienklasse FU 7a der Bodensee-Schule in Friedrichshafen jeden Mittwoch die Enge ihres Klassenzimmer, um draußen zu lernen. Kurz nach 8 Uhr am Morgen laufen die 24 Zweit- und Viertklässler schnatternd los. Einige zählen konzentriert Stöckchen am Boden, andere Mülleimer am Wegesrand oder Autos auf der Straße. Richtig geschätzt? Diese erste Aufgabe klärt sich, als die Kinder nach gut 20 Minuten Fußweg rund um eine Grillstelle am Ufer des Bodensees hocken und von ihren Zählergebnissen berichten.

Der Platz auf der großen Wiese im Seehag unterhalb der Zeppelin-Universität ist wie gemacht für Unterricht im Freien. Fast alle Kinder hätten an den beiden großen, rustikalen Sitzgruppen Platz. Doch keiner hockt sich hin. Stattdessen landen die Rucksäcke auf dem Holztisch. Jungs und Mädels schnappen sich ihre orangenen Mappen mit Arbeitsblättern und Aufgabenbuch, suchen sich lieber ein Plätzchen auf den Holzpodesten am Ufer, im Kiesbett oder auf einem der riesigen Bäume.

Während die meisten Mädchen schnell in ihre Aufgaben vertieft sind oder lesen, kraxeln einige Jungs noch auf Ästen herum. „Hummeln im Hintern“, sagt Lukas Wachter lächelnd. Der Klassenlehrer weiß, dass der enorme Bewegungsdrang der Jungs mit dem straffen Fußmarsch zum Seeufer schon ein wenig abgearbeitet ist.

Waldkindergärten boomen. Schule im Freien ist hierzulande noch selten. Dabei ist die Idee nicht neu, in Skandinavien, der Schweiz oder Amerika geradezu etabliert. In Berlin hat die Conrad-Schule 2016 die erste Waldklasse als Schulversuch eingerichtet. Während dort aber Naturpädagogik und Inklusion im Vordergrund stehen, ist der Ansatz der Rausgeh-Klasse an der Bodensee-Schule ein ganz anderer. „Wir wollen die Lebenswelt der Kinder erkunden, aber wir bleiben bei unserem Lehrplan, dem Marchtaler Plan“, sagt Lukas Wachter und bezieht seine Co-Klassenlehrerin Valentina Novello mit ein. Das heißt an diesem Vormittag zwei Stunden freie Stillarbeit, also Lesen, Schreiben, Rechnen, und zwei Stunden vernetzter Unterricht.
Ein Lehrplan wie für draußen gemacht
Genau genommen sei der Lehrplan der Bodensee-Schule wie gemacht für Lernorte jenseits des Klassenzimmers. Leben in der Stadt oder Pflanzen in ihrem Lebensraum: Das erleben Kinder draußen doch ganz anders. „Eigentlich sollte das, was wir machen, normal sein“, meint Lukas Wachter. Er ist überzeugt davon, dass jedes Kind diesen direkten Kontakt mit der Natur, mit seiner Umwelt in der Schulzeit mehr denn je braucht.

So ist der Fußmarsch zum Seeufer über öffentliche Straßen gleichzeitig Verkehrserziehung. Die fehlt vielen Kindern, die von ihren Eltern mit dem Auto fast bis ins Klassenzimmer gefahren werden. Sie toben sich beim Fußballspielen in der Vesperpause, beim Klettern, bei Fangspielen aus. Und beobachten ganz nebenbei, wie sich der morgendliche Nebel über dem Bodensee auflöst oder wie lange es dauert, bis Schiffswellen ans Ufer schlagen.
Kinder freuen sich auf den Draußentag
Vieles ist anders als drinnen. Einige Kinder arbeiten am liebsten im Stehen. Auch mit der Ruhe auf dem Platz haben die Lehrer nicht gerechnet, obwohl sich die Kinder frei bewegen können. Wer im Klassenzimmer auffällt, sei draußen viel ausgeglichener. „Die Kinder freuen sich auf den Draußentag“, weiß Lukas Wachter. Und nicht nur Phila liebt „die Stimmung wie am Meer“, wie sie später lächelnd im Sitzkreis erklärt. Ob es da regnet oder die Sonne scheint, sei ihnen egal, sagt der Klassenlehrer.

Mit der Stille ist es nach dem sanften Gong der Klangschale zur Pause allerdings vorbei. Zwei Jungs schnappen sich den Fußball statt ihrer Pausenbrote. Nach dem Essen tobt sich mehr als die Hälfte der Klasse beim Kicken aus, der Lehrer mittendrin. Gut 20 Minuten später sitzen alle wieder an der Grillstelle, wo Lukas Wachter die nächste Aufgabe erklärt. Was unterscheidet einen Gala vom Boskoop, Elstar oder Glockenapfel? Die Kinder stürzen sich in Fünfergruppen in die Teamarbeit, die auch noch gut schmeckt. Kurz vor 12 Uhr packt die FU 7a zusammen und macht sich auf den Rückweg zur Schule.

Nicht nur die Eltern stehen hinter dem Konzept, sondern auch der Träger, die Schulstiftung der freien, privaten Bodensee-Schule St. Martin. Die gilt seit Jahrzehnten als fortschrittlich und innovativ. Vor zwei Wochen entschied der Stiftungsvorstand, für den Unterricht im Freien auch Platz auf dem Schulgelände zu schaffen.
Viele Draußen-Klassenzimmer
Geplant ist ein Draußen-Klassenzimmer. Den Holzpavillon werden Zimmerlehrlinge der Claude-Dornier-Berufsschule in Friedrichshafen bauen, „ein tolles Gemeinschaftsprojekt“, freut sich Lukas Wachter über diese Unterstützung. Die kommt auch von anderen Partnern. Die PSG Friedrichshafen erlaubt die Nutzung des Vereinsgeländes am See. Auch die Caserne im Fallenbrunnen oder der Schulgarten im Zeppelindorf stehen als Lernorte im Freien zur Verfügung. Und es werden immer mehr.