Selten tummeln sich so viele Pressevertreter im Audimax des Klinikums wie Mitte Juli. Andreas Brand, Aufsichtsratsvorsitzender vom Medizin Campus Bodensee (MCB) und Oberbürgermeister der Stadt Friedrichshafen, präsentiert den Stand der Compliance-Untersuchungen. Eine der Konsequenzen: Ein Chefarzt des Klinikums Friedrichshafen wird entlassen. Es ist der Chefarzt, gegen den die verstorbene Oberärztin zu Lebzeiten Vorwürfe erhoben hatte.

Oberbürgermeister Andreas Brand (rechts) als Vorsitzender des Aufsichtsrats und Andreas Minkoff von der beauftragten Kanzlei Feigen Graf ...
Oberbürgermeister Andreas Brand (rechts) als Vorsitzender des Aufsichtsrats und Andreas Minkoff von der beauftragten Kanzlei Feigen Graf bei der Pressekonferenz am 17. Juli. | Bild: Katy Cuko

Bettina Oertel, die Zwillingsschwester dieser Oberärztin, sitzt an dem Tag in ihrer Heimat in Oberfranken. Die 47-Jährige erfährt später aus der Presse von der Entlassung. Überrascht ist sie nicht, fassungslos dagegen über die Vorwürfe gegen ihre Schwester. „Die Äußerungen waren für mich eine Katastrophe“, sagt sie. „Es ist augenscheinlich der Versuch, die Schikanen, die man meiner Schwester zu Lebzeiten zugefügt hat, zu rechtfertigen.“

„Mein Leben ist aus den Fugen geraten“

Ihre Zwillingsschwester stand ihr sehr nahe. In den letzten zwei Jahren des Lebens ihrer Schwester habe Oertel detailliert über ihre Situation am Klinikum Friedrichshafen erfahren. Seit dem Tod sei Oertels Leben „aus den Fugen geraten“. Sie kämpft um Gerechtigkeit: So erstattete sie Ende Mai Strafanzeige gegen den Chefarzt. Das Ermittlungsverfahren wird im November 2024 eingestellt. Außerdem kämpft sie nach den Äußerungen des Klinikums Mitte Juli um den Ruf ihrer Schwester in der Öffentlichkeit. „Ich will meine Schwester nicht verklären, wenn sie Fehler gemacht hat, dann soll das auch aufgeklärt werden“, sagt sie. „Aber ich will nicht, dass die Klinikleitung über sie das letzte Wort hat.“

Der Oberärztin wird in der Pressemitteilung von Mitte Juli ein ‚Behandlungsabbruch mit tödlichem Ausgang‘ vorgeworfen. Nach Untersuchungen eines medizinischen Gutachters sei der Tod eines Patienten durch die von ihr getroffene Entscheidung zum „vorzeitigen, nicht richtlinienkonformen Abbruch der Therapie“ verursacht worden. Diese Entscheidung stelle „einen Verstoß gegen elementare Behandlungsstandards“ dar.

Die Gedenkstelle für die verstorbene Oberärztin am Haupteingang des Klinikums. Hier fanden seit Jahresbeginn Mahnwachen für sie statt.
Die Gedenkstelle für die verstorbene Oberärztin am Haupteingang des Klinikums. Hier fanden seit Jahresbeginn Mahnwachen für sie statt. | Bild: Denise Kley

Schwester: Geäußerter Vorwurf ist falsch

Auf welchen Behandlungsfall sich der Vorwurf des Behandlungsfehlers bezieht, äußert das Klinikum nicht. Auf SÜDKURIER-Anfrage heißt es, dass eine Angabe aufgrund der „möglichen Identifizierbarkeit aus Gründen des Patientenschutzes rechtlich nicht zulässig“ sei. Es handele sich aber um einen Fall, der bereits Teil der arbeitsrechtlichen Auseinandersetzung zwischen der verstorbenen Oberärztin und dem Klinikum im Jahr 2023 gewesen sei.

Im Jahr 2023 war wenige Monate vor ihrem Tod ein internes Gutachten zur Oberärztin erstellt worden, nachdem diese mutmaßliche Missstände angeprangert hatte. In diesem Dokument, das dem SÜDKURIER vorliegt, wurden ihr unter anderem mehrere Behandlungsfehler vorgeworfen, auch zu einem Vorfall mit einem angeblichen Therapieabbruch durch die Oberärztin aus dem März 2022.

Oertels Schwester hatte zu Lebzeiten dokumentiert, dass dabei ein Patient nach einer fehlerhaften Behandlung durch eine Assistenzärztin zu Tode gekommen sei. Demnach sei die Oberärztin erst später aus dem Bereitschaftsdienst auf die betreffende Station gekommen und habe erst nach Eintritt des Todes die künstliche Beatmung eingestellt. Sofern es sich um diesen Fall handelt, sei der geäußerte Vorwurf daher falsch, sagt Oertel.

Wird Einsicht in Gutachten verwehrt?

Aufgrund des im Herbst 2023 erstellten Gutachtens ist Oertel skeptisch. Sie stellt das neue Gutachten sowie die Vollständigkeit der untersuchten Aktenlage infrage. Die Juristin will die Dokumente deshalb mit Schwärzungen der Patientendaten einsehen und möglicherweise eigens prüfen lassen. Das Klinikum Friedrichshafen lehne es nach Angaben von Oertel aber ab, ihr diese zuzuschicken – mit dem Verweis auf die ärztliche Schweigepflicht. Oertel ist darüber empört. Ihre Schlussfolgerung: „Eine neutrale Prüfung durch Sachverständige außerhalb des Klinikums wird vereitelt, in dem man die dafür erforderlichen Informationen verweigert.“

Zwei Sätze auf einer Din-A4-Seite

Die Pressestelle des Medizin Campus Bodensee verteidigt das bei der Compliance-Untersuchung erstellte medizinische Gutachten. Unterlagen zum genannten Behandlungsfall seien vollständig gewesen, heißt es von Pressesprecherin Susann Ganzert. Dem medizinischen Sachverständigen seien „umfassende Informationen“ bestehend aus Patientenakten, Bildmaterial und Aufklärungsgesprächen zur Verfügung gestellt worden. Den Vorwurf, dass Oertel das Gutachten nicht erhalten habe, weist man als falsch zurück. So habe die 47-Jährige einen Auszug erhalten. In diesem fasse der Gutachter „seine medizinische Bewertung eines Therapieabbruchs“ zusammen, heißt es.

Dieser Auszug liegt dem SÜDKURIER vor und umfasst jedoch nur zwei Sätze auf einer Din-A4-Seite. Darin ist eine ähnliche Formulierung zu lesen wie in der Pressemitteilung. Darüber hinaus gehende Inhalte könnten aufgrund der „ärztlichen Verschwiegenheitspflicht“ nicht geteilt werden. „Wir gehen davon aus, dass Frau Dr. Oertel als Juristin dieser Umstand bekannt ist“, heißt es weiter.

„War nie die Rede von Vorwürfen gegen sie“

Die 47-Jährige kritisiert zudem, dass das Klinikum während der Compliance-Untersuchungen keine Stellungnahme seitens der Angehörigen oder des Anwalts der Verstorbenen zu dem mutmaßlichen Behandlungsfehler eingeholt habe, während andere sich äußern konnten. Oertel habe im Mai eine Anfrage durch das Klinikum erhalten, dass man Kontakt aufnehmen wolle. Nachdem diese ihre Kontaktdaten geschickt habe, sei eine Kontaktaufnahme seitens des Klinikums aber nie erfolgt, sagt sie.

Der Haupteingang des Häfler Klinikums.
Der Haupteingang des Häfler Klinikums. | Bild: Denise Kley

Das Klinikum weist auch den Vorwurf zurück, dass die Oberärztin, Angehörige oder der Anwalt bei den Compliance-Untersuchungen nicht angehört worden seien. Die Klinikleitung verweist auf die rechtliche Auseinandersetzung im Herbst 2023: „Die Oberärztin wurde seinerzeit in diesem Zusammenhang auch angehört, sodass ihre damalige Stellungnahme in der Compliance-Untersuchung entsprechend berücksichtigt werden konnte.“

Im Rahmen der Untersuchung habe die beauftragte Rechtsanwaltskanzlei Feigen Graf mit dem Anwalt der Verstorbenen, Detlef Kröger, Ende Januar 2024 zum Zweck einer möglichst umfassenden Sachverhaltsaufklärung Kontakt aufgenommen, heißt es. Kröger bestätigt das auf SÜDKURIER-Anfrage. Dabei sei es aber um die Aufklärung der durch die Oberärztin erhobenen Missstände im Klinikum gegangen. „Zu diesem Zeitpunkt war noch nie die Rede von Vorwürfen gegen sie“, sagt Kröger. Das Klinikum widerspricht ihm und verweist auf ein Schreiben an den Anwalt aus dem Januar 2024. Darin habe man darauf hingewiesen, dass die Prüfung möglicher Behandlungsfehler auch Teil der Compliance-Untersuchung sei, so das Klinikum. Kröger steht nach erneuter SÜDKURIER-Anfrage zu seiner Aussage.

Eine Kontaktaufnahme zu Bettina Oertel sei dagegen „auf Leitungsebene nicht bekannt“, sagt das MCB. In Compliance-Gesprächen habe man zu Mitarbeitern mit Kontakt zur Familie darauf hingewiesen, dass Kontaktdaten der Kanzlei weitergeleitet werden könnten und man für Gespräche zur Verfügung stehe, so die Klinikleitung.

Detlef Kröger, Anwalt der verstorbenen Oberärztin.
Detlef Kröger, Anwalt der verstorbenen Oberärztin. | Bild: Benjamin Schmidt

MCB: Compliance-Untersuchung verläuft „neutral und objektiv“

Die Juristin fordert zudem, dass die Geschäftsführung und der Aufsichtsrat die Leistung der Oberärztin posthum anerkennen. Die 47-Jährige moniert auch, dass man den Vorwurf der Behandlungsfehler posthum geäußert habe. Sie sieht die erhobenen Vorwürfe gegen Ihre Schwester als Strategie, von Fehlern von Geschäftsführung und Aufsichtsrat zu Lebzeiten ihrer Schwester abzulenken.

Pressesprecherin Susann Ganzert widerspricht dem. Die vom Klinikum beauftragte Compliance-Untersuchung verlaufe „neutral und objektiv“. Beleg hierfür sei unterem anderem das ausdifferenzierte bisherige Untersuchungsergebnis. Anspruch sei es, die unabhängig ermittelten Untersuchungsergebnisse vollständig und transparent mit der Öffentlichkeit zu teilen, soweit dies rechtlich möglich sei. „Um diesem Anspruch gerecht zu werden, kann das Klinikum der Öffentlichkeit schlechterdings nicht einzelne Untersuchungsergebnisse selektiv vorenthalten.“

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Die Pressestelle verweist auch darauf, dass man die Leistung der Oberärztin anerkannt habe. Man habe einen Nachruf in den lokalen Tageszeitungen veröffentlicht, dem Lebensgefährten kondoliert und sei mithilfe eines Mediators auf den mandatierten Anwalt der Oberärztin zugegangen. „Die Anerkennung ihrer Leistung als Notärztin steht ebenfalls außer Frage und erfolgte ebenso mittels eines Nachrufs, folgerichtig unterzeichnet von den Notarzt-Kollegen“, sagt Pressesprecherin Ganzert.

Klinikum reagierte nach Tod auf Vorwürfe

Wie Bettina Oertel im Kampf um den Ruf ihrer Schwester und das medizinische Gutachten nun weitermache, sei für sie noch unklar. Es könnte lange dauern und kostspielig werden, die Einsicht in das Gutachten auf dem Klageweg zu erreichen. Dennoch wolle sie weiter für ihre Schwester kämpfen und „ihr Licht schützen“, wie sie sagt. „Ich kann es nicht stehen lassen, wenn man Schmutz auf dieses Licht wirft. Wem nützt es?“

Bettina Oertel in einem Café in Friedrichshafen.
Bettina Oertel in einem Café in Friedrichshafen. | Bild: Cian Hartung

Oertel findet es bezeichnend, dass das Klinikum nach dem Tod ihrer Schwester auf die angeprangerten Missstände reagiert habe. Die Organisation der Intensivstation und die Ausbildung der Assistenzärzte wurden seither verändert, die Compliance-Untersuchung sei beauftragt und der Chefarzt entlassen worden, zählt sie auf. Für sie wirke es, als habe man eingesehen, dass ihre Schwester Recht gehabt hätte. „Ohne den Tod meiner Schwester wäre das alles vielleicht nicht passiert.“

„Werde diesen Verlust nie überwinden“

Wenn sie heute an die mutmaßlichen Fehlbehandlungen, den Tod ihrer Schwester, die Entlassung des Chefarztes und die nun verursachte finanzielle Schieflage des Klinikverbunds denkt, sagt sie: „Das hätte alles verhindert werden können.“ Friedrichshafen wird für Oertel weiterhin ein Fixpunkt bleiben. Sie kümmert sich um die Wohnung und den Nachlass der Verstorbenen. Ihre Zwillingsschwester wird trotzdem nicht mehr zurückkommen. Bettina Oertel sagt: „Ich werde diesen Verlust nie überwinden können.“

Anmerkung der Redaktion: Nach einer Stellungnahme des Klinikums zu einer früheren Version dieses Artikels haben wir diese entsprechende Passage um diesen Aspekt ergänzt. Außerdem wurde dieser Artikel Anfang Januar 2025 aktualisiert, weil das Ermittlungsverfahren aufgrund der Strafanzeige der Schwester im November 2024 eingestellt wurde, da nach Auskunft der Staatsanwaltschaft Ravensburg kein hinreichender Tatverdacht besteht. Maßgeblich dafür ist, dass mögliche Vorfälle, die länger als drei Monate vor dem Tod der Oberärztin zurückliegen, juristisch gesehen verjährt sind. Nicht betroffen von dieser Entscheidung sind andere Verfahren.