„Ich werde von ganz vielen lieben Menschen mit Spott bedacht“, erzählt Dekan Peter Nicola mit einem Augenzwinkern. Auch in seiner Anwesenheit würden ihn manche als „Glocken-Peter“ oder „Heiliger Bim Bam“ ansprechen. Aber das sei völlig in Ordnung: „Es ist ja ein Spleen“. Um welchen Spleen, welche Leidenschaft oder welches Hobby – wie immer es genannt werden soll – es geht? Der katholische Geistliche beschäftigt sich mit Glocken. Dabei gilt er als ausgesprochener Glockenfachmann.

„Glockenschläge strukturieren den Tag.“Peter Nicola, katholischer Dekan des Dekanats Linzgau
Wann dieser Spleen ihn packte, könne er nicht sagen. Er sei „um 6.52 Uhr an einem Samstag in Pforzheim geboren“. Während seiner Geburt haben die Glocken der nahegelegenen Herz-Jesu-Kirche wahrscheinlich gerade zur Frühmesse geläutet. Nicola lächelt: Es mag also sein, dass die Liebe zur Glocke in diesem Moment entstanden sei. „Das würde vieles erklären“, sagt der Dekan und ergänzt, dass er das natürlich „spaßeshalber“ erzähle. Ernsthaft fährt er fort: Woher seine Leidenschaft komme, könne er „im Einzelnen gar nicht mehr sagen“.
Schon in der Schulzeit schrieb er über Glocken
„Oma wohnte schräg gegenüber der Pforzheimer Christuskirche“, schildert Nicola. Da war das Glockengeläut allgegenwärtig. Schon in seiner Schulzeit begann er, sich für Glocken zu interessieren. „Als ich angefangen habe, habe ich nicht allzu viel gewusst.“ Die evangelische Kirchengemeinde der Christuskirche habe ein gut sortiertes Archiv gehabt. Dort erhielt er als Jugendlicher Zugang und konnte die Geschichte der Glocken nachlesen. Später durfte er auch ins Stadtarchiv. Das Ergebnis seiner Recherche hat er in der Abhandlung „Die Geschichte der Glocken der Stadt Pforzheim“ niedergeschrieben. Noch in seiner Schulzeit erhielt er dafür den Jugendförderpreis des Landespreises für Heimatforschung.

Erste Aufnahmen entstanden auf Musik-Kassetten
Zum Studium der katholischen Theologie ging Nicola nach Freiburg. Ein Studienfreund dort interessierte sich ebenfalls für Glocken. Von da an „entwickelte sich die Sache mehr und mehr“. Auch in Münster, wo er zwei Semester studierte, habe er Gleichgesinnte gefunden. Geläute in Pforzheim, des Kölner Doms, des Freiburger Münsters und die Münsteraner Glocken wurden aufgenommen und ausgetauscht. Damals noch auf den klassischen Musik-Kassetten. „Die Aufnahmen habe ich immer noch.“
In der Zwischenzeit sei sein Tonarchiv auf 13 000 Aufnahmen angewachsen, beschreibt Pfarrer Nicola. Davon habe er 6700 Geläute selbst aufgenommen. „6700 Aufnahmen, nicht 6700 Kirchen“, präzisiert er. Zum Beispiel besitzt er vom Salemer Münster insgesamt 119 eigene Aufnahmen. „Einzelglocken, volles Geläut und verschiedene Kombinationen.“
Aus seinen Aufnahmen wurden auch schon Geschenk-CDs
Heute werden die Geläute digital gespeichert. Bei den Kassetten habe er aber „Möglichkeiten geschaffen, dass sie gut geschützt sind“. Einige der analog aufgezeichneten großen Geläute seien auch schon digitalisiert, so zum Beispiel eine Aufnahme aus Trier aus dem Jahre 1993. Aus seinem Tonarchiv sind in der Zwischenzeit schon einige Aufnahmen durch die Gemeinde veröffentlicht worden, zuletzt auf der CD in der Weihnachtstasche seiner Seelsorgeeinheit.
Grundsätzlich nimmt Nicola mit einem digitalen Recorder auf. „Übersteuerte Aufnahmen von einem klanglich überforderten Handy mag ich nicht.“ Einen eigenen Youtube-Kanal betreibt er nicht, auch wenn die heutige Generation der Glockenaufnehmenden auf Film setze. Auf Youtube seien genug Videos aus Glockentürmen zu finden, viele leider mit sehr mäßiger Tonqualität. Der Zuwachs an neuen Aufnahmen sei natürlich abhängig von Reisemöglichkeiten und geeignetem Wetter.
Übers Wochenende nach Südtirol zur Aufzeichnung
Nicola kommt zurück auf seinen Spleen. „Wer würde denn am Wochenende mal kurz nach Südtirol fahren und nichts anderes machen als dort Kirchenglocken aufzuzeichnen“, fragt er und grinst. Besonders schön sei übrigens das Geläut der Benediktinerabtei Muri-Gries bei Bozen. Sie habe eines der größten Geläute Südtirols in einem Glockenturm aus dem zwölften Jahrhundert. Bei so einer Aufnahmekampagne während der Ferienzeit kämen 20 bis 30 Aufnahmen zusammen. Mit etwas Glück könnten zehn Geläute an einem Tag aufgezeichnet werden. Jeweils ein Gesamtgeläut und einzelne Glocken.
Nebentöne lassen sich manchmal nicht vermeiden
Aufgezeichnet wird unter freien Himmel, möglichst schräg zum Glockenturm. „Dann kommt der Ton aus zwei Richtungen.“ Aber die Umwelt könne man nicht absperren. So geschieht es, dass auch Nebentöne mit aufgezeichnet werden. „Die Mikrofone sind sehr empfindlich und hören alles: Geschnatter, ratternde Motorräder, krächzende Raben, Feuerwehr und Traktoren.“
Aufgezeichnet wird häufig das Sonntagseinläuten. Die Zeit dafür kann von Pfarrei zu Pfarrei variieren, „samstags, frühestens 11 und spätestens 21.30 Uhr“. Dabei spielt der Sonnenstand eine wichtige Rolle. Nach früherer Tradition wird zum Sonnenuntergang der Sonntag eingeläutet und am frühen Morgen der Tag begrüßt. Das Angelusgeläut ertönt nach dieser Tradition zum Sonnenaufgang. Das kann im Sommer schon um 4.30 Uhr sein. In einer Schweizer Gemeinde wurde einmal eine Volksabstimmung abgehalten, damit das Angelusgeläut später erklingen soll. Die Bürgerschaft entschied sich für die Beibehaltung der frühen Läutezeit.
Morgengeläut „muss nicht um fünf Uhr sein“
Die Geschichte verdeutlicht für Nicola die Wichtigkeit der Glocken für die Menschen. Auch wenn es teilweise „unschöne Auseinandersetzungen“ gab und gibt, wenn Menschen sich vom Kirchgeläut gestört fühlen und vor Gericht ziehen. „Nicht klein beigeben, im Rahmen dessen, was möglich ist“, so solle gehandelt werden. Einen Dogmatismus lehnt Nicola aber ab. „Morgengeläut muss nicht um fünf Uhr sein, das tut‘s auch sieben Uhr“. Am Salemer Münster wird zum Beispiel um 7.30 Uhr zum Angelus geläutet.
Pfarrer Nicola: Zeiten ohne Glockenklang sind böse Zeiten
Die Glocken haben so regelrecht eine eigene Sprache. „Wenn wir Glocken hören, geht es uns gut.“ Denn die Zeiten ohne Glockenklang seien böse Zeiten. „Das sind Zeiten von Not, Krieg, Unterdrückung. Kommunisten wie Nazis haben heftig unterdrückt und verfolgt“, sagt Nicola. Seine Heimatstadt könnte dafür Beispiel sein. Pforzheim sah durch Raubzüge im 18. Jahrhundert, durch Brände und die beiden Weltkriege große Notzeiten, in denen die Glocken schwiegen. Für Nicola ein Zeichen düsterer Zeit: Die Nazis haben Glocken eingeschmolzen und zu Kanonen gegossen. Nicola berichtet, dass daher fast alle Pforzheimer Glocken erst nach 1945 gegossen wurden.
Das zeige aber auch, wie wichtig den Menschen der Glockenklang sei. Denn er diene nicht nur dem liturgischen Zweck in den Kirchen. „Glockenschläge strukturieren den Tag.“ Die Zeit verrinne. Die Glocken mahnten die Zeit, die einem bliebe, um sie zu nutzen.