Zwischen Roland Biniossek (Die Linke) und dem Rest des Gemeinderats klafft ein Spalt. Die Räte fühlen sich von ihm provoziert, verleumdet und verunglimpft. Während sie in den Ratssitzungen im direkten Aufeinandertreffen reagieren können, sind sie angesichts der Artikel, die Biniossek im Amtsblatt "Hallo Ü" veröffentlicht, "ratlos", wie Marga Lenski (LBU/Die Grünen) meint. Man habe in zig Gesprächen versucht, Biniossek für einen "anständigen Umgang mit Ratskollegen und der Verwaltung zu sensibilisieren". Weil das aber fruchtlos sei, planten die Räte im Zusammenwirken mit der Rathausverwaltung eine Sanktionierung. Biniossek sollte mit einem auf drei Monate befristeten Veröffentlichungsverbot belegt werden, wenn er dreimalig gegen das Redaktionsstatut verstößt. Was in diesem Sinne einen Verstoß darstellt, sollte mit einfacher Mehrheit der Gemeinderat beschließen. Auf Nachfrage teilten die Sprecher der Ratsfraktionen mit, dass ihr Antrag mit Zensur nichts zu tun habe.
Soweit der Wunsch der Gemeinderäte, der von der Rathausverwaltung für die Sitzung am kommenden Montag ausgearbeitet wurde (TOP 13). Nach Veröffentlichung der Sitzungsvorlagen rief Biniossek die Rechtsaufsicht im Regierungspräsidium (RP) Tübingen an, die sich an die Stadtverwaltung mit der Bitte um eine Stellungnahme wandte. Das wirkte. Wie Oberbürgermeister Jan Zeitler am Donnerstagabend gegenüber dem SÜDKURIER mitteilte, gebe es noch "offene Punkte". Er begrüße zwar das Ziel des Antrags, das zu einem "geordneten, gesellschaftlichen Zusammenleben" beitragen könne. Bis zur Klärung offener Fragen nehme er das Thema aber von der Tagesordnung.
OB sieht sich nicht verantwortlich
Herausgeber des Amtsblattes ist die Stadt Überlingen, namentlich OB Zeitler. Er übernehme für den amtlichen Teil auf den ersten Seiten die Verantwortung. Für den redaktionellen Inhalt namentlich genannter Verfasser seien die Verfasser verantwortlich, stellt Zeitler fest. Die Redaktionsleitung für den "nichtamtlichen" Teil liege beim Primo-Verlag Stockach, der das Hallo Ü druckt.
Das ist presserechtlich umstritten. Der Spezialist für Medienrecht, Rechtsanwalt Michael Rath-Glawatz, teilte mit: "Amtsblätter werden von den Kommunen herausgegeben, die damit für den Inhalt voll verantwortlich sind." Die Stadt müsse Beiträge von Fraktionen vor Veröffentlichung daraufhin prüfen, "ob sie eventuell rechtlich unzulässige Inhalte aufweisen". Falls ja, müsse die Stadt diese Beiträge zurückweisen. Rath-Glawatz: "Die Stadt haftet, neben dem Autor, für den Inhalt des Fremdbeitrags." Wenn jemand der Meinung sei, und dies gelte nicht nur für die politische Konkurrenz im Rat, dass ein Beitrag unzulässig war, könne er nach Veröffentlichung zur Unterlassung auffordern und notfalls darauf klagen. Pauschal Beiträge als Sanktionsmaßnahme abzulehnen, auch wenn die folgenden Beiträge in Ordnung wären, sei nicht vertretbar und keinesfalls verhältnismäßig, so der Jurist. Mit Verweis auf Artikel 5 des Grundgesetzes sagt Rath-Glawatz: "Der Grundgedanke des Zensurverbotes besteht darin, dass in einer rechtsstaatlich gefestigten Demokratie jeder unter Wahrung der Rechte der Betroffenen seine Meinung frei sagen und als Presse frei publizieren darf. Mit diesem Grundgedanken sind generelle Publikationsverbote unvereinbar."
"Von Zensur kann nicht die Rede sein", findet OB Jan Zeitler. "Eine Sanktion gegen einen Verstoß gegen das Redaktionsstatut soll, so die Vorlage, vom Gemeinderat demokratisch entschieden werden. Die Meinungsfreiheit stößt an Grenzen, wenn es um Persönlichkeitsrechte geht."
In Deutschland gilt das medienrechtliche Prinzip der Staatsferne. Ein Staat darf nicht gleichzeitig Presse sein. Denn die verfassungsgemäß verankerte öffentliche Kontrolle durch die Medien würde dadurch abgeschafft. Auf die Frage an Zeitler, warum er den politischen Parteien von Überlingen über ein Staatsorgan wie das Hallo Ü trotzdem die Möglichkeit zur Darstellung außerhalb von Wahlzeiten einräumt, antwortete er: "Ich zweifele an, dass es sich beim Hallo Ü um ein Staatsorgan handelt. Die Stadt Überlingen nimmt die Anfrage jedoch zum Anlass, diese Fragestellung aufarbeiten zu lassen und grundsätzlich zu klären."
"Was Du nicht willst..."
In der Ratsvorlage, die nun vorerst nicht zum Aufruf kommt, heißt es zur Begründung, dass in diesem Jahr die Linke "mehrere Artikel" im Hallo Ü veröffentlicht habe, die aus Sicht von Gemeinderäten und der Verwaltungsspitze "falsche Behauptungen und Diffamierungen" enthielten. Aus diesem Grund werde "aus dem Gemeinderat" die besagte Sanktionierungsmöglichkeit beantragt. Eine einzelne Fraktion als Antragsteller ist nicht genannt. Es handle sich um "das Ergebnis gemeinsamer Überlegungen", teilte Oswald Burger (SPD-Fraktionssprecher) mit.
Marga Lenski ahnte schon, dass der Vorstoß, Biniossek im Ton zu mäßigen, "mehr ein Zeichen dieser Ratlosigkeit als eine umsetzbare Maßnahme" ist. Die Debatte solle dazu dienen, "deutliche und begründete Kritik" an Biniossek zu üben. CDU-Sprecher Günter Hornstein betont, dass sich Biniossek doch bitte nur um kommunalpolitische Themen kümmere. Er solle auf "bundes- und weltpolitische polemische Erörterungen" verzichten, fordert auch Raimund Wilhelmi (FDP). Robert Dreher (FWV/ÜfA) antwortete auf die Frage, nach welchen Gesichtspunkten darüber befunden werden soll, was wahr ist: "Wenn man will, gibt es sicherlich objektive Gesichtspunkte, was wahr ist und was unwahr ist." Und wie stellt man diffamierende Inhalte fest? Dreher: "Was Du nicht willst..." Dazu Oswald Burger: "Der Gemeinderat als Kollektivorgan kann Diffamierungen und Beleidigungen erkennen."
Biniossek sieht in der Absetzung einen Punktsieg. "Die Mehrheit eines Gremiums darf nicht dessen Minderheit dominieren", argumentiert er. "Es gilt der Minderheitenschutz des Grundgesetzes." Auf die Frage, wie er im Ton zu mäßigen sei, antwortete er: "Ich finde nicht, dass ich einen scharfen Ton habe. Das ist einfach nur eine klare Meinungsäußerung, ein offenes Visier."
Medienrechtler Michael Rath-Glawatz: "Das Amtsblatt ist keine Litfaßsäule für Verlautbarungen von Parteien"
Was darf eine Stadt im Amtsblatt veröffentlichen, und wer trägt die Verantwortung für den Inhalt? Fragen dazu beantwortet Rechtsanwalt Michael Rath-Glawatz, Experte für Medienrecht, Hamburg:
Überlingen bringt ein Amtsblatt heraus, in dem die Gemeinderäte eigene Beiträge veröffentlichen. Was darf laut Baden-Württembergischer Kommunalverfassung in solchen Beiträgen stehen?
Das Amtsblatt als ein Instrument der kommunalen Öffentlichkeitsarbeit soll die Bevölkerung über die eigenen Aktivitäten der Stadtverwaltung informieren und das Vertrauen in deren Arbeit stärken. In diesem Sinne müssen sich auch die Beiträge der Fraktionen ausschließlich mit Themen beschäftigen, die in den Aufgabenbereich der Stadtverwaltung fallen.
Dürfen Termine auf Parteiveranstaltungen angekündigt und kommunalpolitische Vorgänge kommentiert werden?
Ein Amtsblatt ist nicht dazu da, Parteien eine Plattform für Parteipropaganda zu bieten. Dies verbietet sich schon deshalb, weil der redaktionelle Teil Neutralität zu wahren hat. Erst recht ist das Amtsblatt keine Litfaßsäule für Verlautbarungen und Ankündigungen von Parteien. Ebenso wie der redaktionelle Teil des Amtsblattes nicht über alles berichten darf, was in Überlingen „so los ist“ – dies ist verfassungsrechtlich der freien Presse vorbehalten.
Muss den Fraktionen das Recht zur Veröffentlichung eingeräumt werden?
Die Gemeindeordnung verpflichtet in der derzeit geltenden Fassung eine Kommune dann, wenn sie ein Amtsblatt herausgibt, den im Gemeinderat vertretenen Fraktionen „ihre Auffassungen zu Angelegenheiten der Gemeinde“ im Amtsblatt darzulegen. Gegen diese Regelung werden schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht, weil Fraktionsbeiträge immer parteipolitisch gefärbt sind und damit das Amtsblatt zur „Meinungspresse“ wird. Es bleibt abzuwarten, wie die Gerichte in einem anhängigen Rechtsstreit die Frage der Zulässigkeit von Fraktionsbeiträgen in Amtsblättern entscheiden werden.
Wer hat in Amtsblättern die presserechtliche Verantwortung darüber, wenn falsche, beleidigende oder verleumderische Inhalte veröffentlicht werden?
Amtsblätter werden von den Kommunen herausgegeben, die damit für deren Inhalt voll verantwortlich sind. Auch bezogen auf die Beiträge von Fraktionen, die im Amtsblatt abzudrucken sind, ist die Kommune in der Weise verantwortlich, dass die Beiträge vor Veröffentlichung daraufhin zu prüfen sind, ob sie eventuell rechtlich unzulässige Inhalte aufweisen. Und wenn ja, muss die Stadtverwaltung als verantwortlicher Herausgeber des Amtsblattes den fraglichen Beitrag zurückweisen. Um nicht missverstanden zu werden: Eine inhaltliche „Zensur“ in dem Sinn, dass die politische Ausrichtung des Beitrages beanstandet wird, darf in keinem Fall erfolgen.
Kann eine Stadtverwaltung als Herausgeber die Verantwortung für bestimmte Beiträge abschieben?
Nein. Werden im Amtsblatt neben von der Stadt verfasster Artikel auch Beiträge Dritter veröffentlicht, so haftet die Stadt, neben dem Autor, für den Inhalt des Fremdbeitrages. Dies allein schon deshalb, weil die Stadt sonst „fein raus“ wäre, weil sie Berichte, die sie selbst nicht verantworten will, aber im Amtsblatt abgedruckt sehen möchte, einfach von Dritten schreiben lassen könnte.
Fragen: Stefan Hilser