Es ist Samstagmorgen, kurz vor halb sieben. Am Bahnhof in Lüneburg regnet es. Espen Rechtsteiner, ehemals Vorsitzender des Jugendgemeinderats Überlingen, steht mit drei Kommilitoninnen am Gleis. Ihr Ziel: Lützerath. Angekündigt ist ein großer Protestzug. Die Polizei wird zunächst von 8000 Teilnehmern sprechen und korrigiert die Zahl später auf etwa das Doppelte. Die Veranstalter sprechen sogar von 35.000 Teilnehmern.
„Es war wirklich bemerkenswert“, erinnert sich Espen Rechtsteiner im Gespräch mit dem SÜDKURIER. „Schon im Zug in Lüneburg waren mehr als 100 Leute, die nach Lützerath gefahren sind.“ Am Bahnhof in Mönchengladbach, wo die vier in den Zug nach Erkelenz umsteigen mussten, war dann noch mehr los. „Wir mussten uns in den Zug drängen, sonst wären wir nicht mehr mitgekommen“, erzählt der 21-Jährige vom Bodensee. Die Shuttlebusse seien im Dauereinsatz gewesen und hätten die Menschen weiter in Richtung Protestzug gebracht.

„Zum Ort des Geschehens mussten wir dann noch einmal eine Stunde laufen“, sagt Espen Rechtsteiner. „Und das im Dauerregen.“ Es sei eine wahre Völkerwanderung gewesen. Überall waren Menschen, berichtet der Student. Das Feld um Lützerath, das er eine Woche zuvor schon gesehen hatte, als er zum ersten Mal dort im Dorf war, glich mittlerweile einem Sumpf.

Die Stimmung vor Ort beschreibt Rechtsteiner als friedlich. „Es war unglaublich, vor allem, weil alle Generationen dabei waren. Es gab Eltern, die mit ihren Kleinkindern in Fahrradanhängern dabei waren, wie auch ganz viele ältere Menschen“, berichtet er. Vor Ort angekommen hielt sich der 21-Jährige in der Nähe der Kundgebungen auf, denn dort sprach unter anderem Klima-Aktivistin Greta Thunberg aus Schweden.

„Es war irgendwie surreal, sie einmal live zu erleben“, erinnert sich Rechtsteiner. „Als sie geredet hat, war plötzlich eine ganz andere Stimmung.“ Inhaltlich habe sie jedoch nichts Neues erzählt. „Sie hob die internationale Verantwortung Deutschlands hervor und sagte, dass das, was in Lützerath passiert, nicht in Lützerath bleibe“, erzählt Espen Rechtsteiner. Allein ihre Anwesenheit habe ihm gezeigt, wie wichtig der Moment in Lützerath sei und welche Bedeutung er habe. Ihre Formulierung „Die ganze Welt schaut auf Lützerath“ blieb Rechtsteiner dabei besonders in Erinnerung.
Von einem „unglaublichem Maß an Gewalt der Polizei“, wie es eine Sprecherin der Klima-Aktivisten nach der Demonstration formulierte, hat Rechtsteiner kaum etwas mitbekommen. „Das muss wohl während der Kundgebung gewesen sein“, sagt der 21-Jährige. „Ich habe Leute getroffen, die mir krasse Geschichten erzählt haben.“ Einer berichtete ihm etwa, dass er von den Schlägen immer noch Schmerzen am Kopf habe.
„Dieser Widerspruch von dörflicher Infrastruktur und unglaublicher Zerstörung ist nicht in Worte zu fassen.“Espen Rechtsteiner, Demonstrant und ehemaliger Vorsitzender des Überlinger Gemeinderats
Nach der Kundgebung machten sich Rechtsteiner und seine Freunde auf den Weg zur Abbruchkante. Dort trafen sie auf Tausende von Menschen. „Der Braunkohletagebau Garzweiler II ist eine unfassbar große Wunde in der Erde, eine Mondlandschaft, deren Dimension selbst vor Ort kaum begreifbar ist“, erzählt der junge Mann und ergänzt: „Dieser Widerspruch von dörflicher Infrastruktur und unglaublicher Zerstörung ist nicht in Worte zu fassen.“

Auf der einen Seite sei der fossile Kapitalismus, auf der anderen Seite eine Zivilgesellschaft, die sich ein neues, sozialeres, ökologischeres und gerechteres System wünscht. „Dieser Tag hat mich definitiv verändert. Ich werde noch lange daran denken“, ist sich Espen Rechtsteiner sicher.