Auf diesen Umzug schaut die Alemannische Fastnacht. Normalerweise lockt der Hänselejuck tausende Besucher an, er findet jährlich an Fastnachtssamstag um 19 Uhr statt. In diesem Jahr kam die Erlaubnis, trotz Corona, aber in sehr beschränktem Maße, Narrenumzüge durchführen zu dürfen, erst vor wenigen Tagen aus Stuttgart. Zu spät für die Narrenzunft Überlingen, einen Hänselejuck zu organisieren.
„Die Hänsele muss man dazu aber gar nicht aufrufen“, sagte Eva Bolter, die um 19 Uhr erwartungsfroh am Aufkircher Tor stand. Sie sollte Recht haben, wenige Minuten später juckten Hänsele in großer Zahl über den üblichen Umzugsweg: Die Aufkircherstraße, durchs Franziskanertor, über Christoph- und Kessenringstraße in Richtung Hofstatt.
Die Polizei schätzte die Zahl der Besucher in der Alstadt um 19 Uhr auf etwa 400 Personen. Die wenigsten trugen Maske, es sei denn, eine Narrenmaske. Die aktuellen Coronavorschriften lassen Ansammlungen von Geimpften in unbeschränkter Zahl zu, bei Unterschreiten des Mindestabstands müsste dennoch eine Maske getragen werden. Das Ordnungsamt der Stadt Überlingen hatte angekündigt, keine gezielten Kontrollen etwa des Impfstatus‘ vorzunehmen, nur eventuell stichprobenartig.
Normal sind an einem Fastnachtssamstag, je nach Wetter, 1500 Hänsele. Die Zahl an diesem Samstag gab die Polizei mit 280 Hästrägern an. Die Maskenträger wirkten im Pulk, als handle es sich um einen ganz normalen Hänselejuck.
Sicherheitsabstand beim Schnellen
Es wurde getanzt, geschnellt, gejuckt. Die Musik lieferten Minikapellen, oder sie kam über mobile Lautsprecher. Während sonst beim Karbatschenschnellen ein Hänselerat für den nötigen Abstand zum Publikum sorgt und darauf achtet, dass niemandem etwas passiert, organisierten sich die Hänsele untereinander und gaben aufeinander und auf das Publikum acht.
Wie die Polizei um 20.30 Uhr in einer vorläufigen Bilanz sagte, habe es keine Zwischenfälle gegeben. „Null“, so die klare Aussage des Polizeipräsidiums Ravensburg. Die Beamten hatten insgesamt wenig zu tun. Hier forderten sie die Betreiber einer mobilen Bar in der Franziskanerstraße dazu auf, mit ihrem Gefährt auf den Gehweg zu wechseln.
Alles das funktionierte ohne Absperrungen, ohne Lenkung, ohne den legendären Aufruf „Jucket au“ – und nahezu ohne Polizei. Der Umzug dauerte rund 30 Minuten, in dieser Zeit waren die genannten Straßen von Narren verstopft, für Autos gab es kein Durchkommen. Doch schützte die Polizei mit einem Mannschaftswagen am Ende des Zugs die Maskenträger und Besucher. Am Kreisel beim Aufkircher Tor genügten zwei Beamten, um die Lage zu sichern.
„Ich bin stolz auf die Hänsele“, sagte Christiane Allweier, als der Zug der Hänsele in der Franziskanerstraße an ihr vorüberzog. Kurz vor dem Umzug sagte die Überlingerin erwartungsfroh: „Ich lasse mir die Freude am Leben nicht nehmen, die Menschen haben Corona satt.“
Nada Kosanovic sagte, dass sie sich über diese Form des Hänselejuck sehr freue, weil es in der Stadt nun viel mehr Platz gebe als an einem normalen Fastnachtssamstag. „Sonst bin ich da nicht mehr hingegangen, weil es immer so unerträglich voll war.“ Sie plante Besuche in den Gaststätten, um sich als Schnurrandin zu vergnügen. Thema dürfe dabei alles sein, „nur nicht Corona und nicht Ukraine“.
Die Gaststätten wie Galgenhölzle und Hotel Ochsen waren ausgebucht. Vor dem Galgen bildete sich eine Schlange, Ochsen-Wirt Lukas Waldschütz musste Besuchern, die keinen Tisch reserviert hatten, absagen. Er freue sich darüber, dass „wenigstens ein bisschen Fastnacht möglich ist“. Auf Musik oder Programm verzichtete er, dafür genügte die 3-G-Regel, und er konnte alle Tische besetzen.
Drei gut gelaunte Frauen linsten durch die Fensterscheiben in den Ochsen, sie kamen gerade vom Hänselejuck und fanden, dass in der Wirtschaft eine doch sehr ruhige Atmosphäre herrsche, die nicht zu ihrer heitere Stimmung gepasst hätte. Sandra, Birgit und Angela hießen die Frauen, die partout ihren Nachnamen nicht nennen wollten. Birgit meinte zum Hänselejuck: „Das hat der Seele gut getan.“
Auch die Weltlage wird zum Thema
Wer nicht einkehren konnte, fand auch an der einen oder anderen mobilen Bar, die von Privatleuten durch die Stadt gezogen wurden, etwas zu Trinken. „Die drei Damen vom Grill“ waren stark nachgefragt. Hier reichten Jan Lamprecht und seine Freunde gegen eine Spende Bier. Lamprecht fand, dass man es angesichts der Weltlage mit dem Spaß derzeit nicht übertreiben solle. Da ihre Aktion aber für den guten Zweck, nämlich für die Spendenaktion „Narr mit Herz“ des Anusch‘s Wirt Michael Reutlinger zugedacht war, hatte er ein gutes Gewissen dabei.
Manuel Schappeler war einer der 280 Hänsele. Er ging, ähnlich wie Jan Lamprecht, mit einem ambivalenten Gefühl auf die Straße. „Der Krieg in Ukraine überlagert das hier, und es ist extrem fragwürdig.“ Es fühle sich nicht nur gut an, sagt er. Warum er dann dennoch ins Häs schlüpfte? „Weil ich so traditionsbewusst bin.“ Vergangenes Jahr sei er zu Hause geblieben, „aber dieses Jahr war es legal“. Er habe hohen Respekt vor der aktuellen Weltlage, „cool war es hier aber trotzdem ein bisschen“.
Schappeler bilanzierte für sich aus Sicht des Hänsele: „Es waren viel weniger Zuschauer, der Hänselejuck war kürzer und schneller, weil man bei großen Lücken einfach weitergerannt ist. Und was den Spirit betrifft: Ich würde sagen, maximal zehn Prozent an Emotionen, die ein normaler Hänselejuck in mir weckt.“
Wie jeder normale Hänselejuck endete auch dieser auf der Hofstatt. Keine Blaskapellen, keine Absperrungen, aber wie in normalen Jahren zahlreiche Hänsele, auch Kinderhänsele, die vor der historischen Kulisse von Rathaus und Münster ihre Karbatsche schlugen. Es knallte, der Narrenmarsch ertönte aus der Box. Yvonne Wiest war unter den Besuchern. Sie meinte: „Das war der kürzeste Hänselejuck ever, aber er wird lange in Erinnerung bleiben.“