Baden-Württemberg sieht sich als Leuchtturm in Sachen Bürgerdialog – auf übergeordneter Ebene. Seit 2014 gilt die Verwaltungsvorschrift zur Öffentlichkeitsbeteiligung für große Bauvorhaben und Infrastrukturprojekte der Landesbehörden, die erst vor zwei Wochen um weitere sieben Jahre verlängert wurde. Kein anderes Bundesland habe eine solche Regelung, wurde die zuständige Staatsrätin Gisela Erler vor Kurzem zitiert: „Wir haben hier einen Meilenstein gesetzt.“ Manche Behörden öffneten sich allerdings nur „mit angezogener Handbremse“, kritisierte sie allerdings auch. Gilt das auch für die Stadt Überlingen?

Verein Bürgersinn wünscht, dass Leitfaden für neue Planungskultur übernommen wird

Darauf bezieht sich jetzt Joachim Betten, Vorsitzender des Vereins Bürgersinn, mit einem Appell an Oberbürgermeister Jan Zeitler: „Seien Sie mutig und übernehmen Sie diesen ‚Leitfaden für neue Planungskultur‘ als verbindlich in Ihrer Stadtverwaltung, wie es schon einige Kommunen in Baden-Württemberg bisher getan haben“, schreibt Betten: „Damit können Sie etwas gegen den Frust der Überlinger Bürger unternehmen, die sich bei zahlreichen Projekten in den letzten Monaten, wie Abriss und Neubauten Hafenstraße, Fischerhäuser-Vorstadt, Laserklinik, Solarthermie-Werk SWÜ, Investorenprojekt Deisendorf, Hotelkomplex Zimmerwiese, Bebauung Rauensteinpark, hintergangen und benachteiligt fühlten.“ Vorgemacht habe das Land eine echte Beteiligung gerade beispielhaft im Zuge der B-31-Planung zwischen Meersburg und Friedrichshafen. Dass alle Beteiligten am Ende glücklich sind, könne wohl keiner erwarten.

Oft wird das Ziel der Nachverdichtung überstrapaziert

Ein Blick auf realisierte Bauprojekte der jüngeren Zeit in Überlingen zeigt schnell, weshalb Bürger bei vielen Planungen besorgt und bisweilen schnell aus dem Häuschen sind. Oft werden Grundstücke bis an die Grenze so ausgereizt, dass der Charakter eines Gebiets geopfert wird und das Ziel der Nachverdichtung für viele überstrapaziert wird. Ungeachtet dessen, dass der Gemeinderat und vor allem das Baugesetzbuch die Korrektive des Verfahrens sind. Ein Vorhaben in der Fischerhäuservorstadt, dem historischen Quartier zwischen der inneren und äußeren Stadtbefestigung, brachte den Stein ins Rollen. Ein Gestaltungsbeirat wurde hinzugezogen, ein Entwurf vorgestellt.

OB sieht Beteiligungsprozess „leider frühzeitig ausgebremst“, wenn er zu früh startet

Eine Gruppe, zu der bekannte Namen und Funktionsträger in der Stadt zählen, forderte schon zu diesem Zeitpunkt ein Gespräch mit der Verwaltung – zunächst vergeblich. „Die Beteiligung der Öffentlichkeit ist im Baugesetzbuch geregelt“, sagt Oberbürgermeister Jan Zeitler auf Anfrage. Die Öffentlichkeit müsse möglichst frühzeitig über die allgemeinen Ziele und Zwecke der Planung informiert werden. Die Bürger müssten gehört, die daraus resultierenden Entwürfe öffentlich ausgelegt werden.

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Ohne Kenntnisnahme der Ergebnisse und der daraus abgeleiteten Planungsabsichten werde, wie im Fall der Fischerhäuservorstadt, der eigentliche Beteiligungsprozess durch die Bürgerschaft „leider frühzeitig ausgebremst“, sagt der Oberbürgermeister.

Engagierte Bürger fühlen sich als Störenfriede abgestempelt

Bürger wie Peter Kainrath sehen dies anders. „Die interessierten und engagierten Bürger bringen sich entweder mit Leserbriefen oder durch Mitarbeit in den Nachbarschaftsgruppen ein, werden aber nach wie vor von der Verwaltungsspitze ignoriert, als Störenfriede dargestellt und leider auch zu oft von oben herab behandelt“, urteilt er. „In Überlingen gibt es das Integrierte Stadtentwicklungskonzept Isek und die Altstadtsatzung, von denen selbst Gemeinderäte und Parteien sagen, dass die Vorgaben nicht angewandt werden.“ Die „Stadtspitze“ wische Unterschriftenlisten mit mehreren Hundert Unterschriften beiseite, trete „also das Grundprinzip der Bürgerbeteiligung mit Füßen und hofiert einseitig die Investoren.“

Hier an der Ecke Aufkircher und Uhlandstraße will Dr. Martin Braun mit seiner Bodensee-Laserklinik ein neues medizinisches Zentrum ...
Hier an der Ecke Aufkircher und Uhlandstraße will Dr. Martin Braun mit seiner Bodensee-Laserklinik ein neues medizinisches Zentrum schaffen. Eine Bürgerinitiative wehrte sich, sammelte Unterschriften und trug ihre kritische Perspektive im Ratsplenum vor. | Bild: Hanspeter Walter

Bürgerinitiative erhielt im Rat viel Raum – aber damit hatte es sich dann

Als es um den Bau der neuen Laser-Klinik ging, bekam die Bürgerinitiative vom Schättlisberg im Ratssaal spät, dafür viel Raum und Zeit, um in einer ausführlichen Präsentation vor dem Ratsplenum nicht nur ihre Kritik an dem einen Vorhaben zu äußern, das vor allem die Anwohner mächtig ärgerte. Sie konnte sogar der Stadtplanung und dem Gemeinderat ihre eigenen Vorstellungen und Wünsche für das gesamte Quartier darstellen, das im Moment gar nicht zur Debatte stand. Doch damit hatte es sich dann.

Liste mit Projekten für Bürgerbeteiligung schlummert seit 2015 in der Schublade

Unterdessen schlummert eine Liste mit Projekten für die Bürgerbeteiligung, die schon 2015 formuliert worden war, in der Schublade. Hätte man zum Beispiel die Problematik und die Kontroverse zwischen Bambergen und Deisendorf nicht vorhersehen und flankierende Maßnahmen ergreifen können? „Man hätte doch im Vorfeld die beiden Ortschaftsräte zusammenrufen können und den Boden für die geplante Entwicklung bereiten“, sagt ein eher nachdenklicher Beobachter aus den Teilorten.

Bambergener fühlen sich zu spät und schlecht informiert. Oberbürgermeister Jan Zeitler warb vor dem Dorfgemeinschaftshaus um Verständnis ...
Bambergener fühlen sich zu spät und schlecht informiert. Oberbürgermeister Jan Zeitler warb vor dem Dorfgemeinschaftshaus um Verständnis für die Corona-Beschränkungen und wurde drinnen Zielscheibe des Missmuts über die Pläne zur Bebauung des Gebiets „Torkel“ durch einen Investor. | Bild: Hanspeter Walter

Eskalation ließe sich durch frühzeitige Beteiligung verhindern

Vielleicht hätte man dadurch die eingetretene Eskalation verhindern können. Denn tatsächlich war der massiv bekämpfte Entwurf in den vorgestellten Dimensionen von der Stadtplanung schon im Vorjahr vorgeschlagen und vom Gemeinderat in dieser Form befürwortet worden. Nun saßen die Bürgervertreter der Gesamtstadt wie begossene Pudel im Hintergrund und konnten sich die Tiraden der Bambergener nur anhören.

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Herbert Dreiseitl fordert mehr Mut zum Dialog

Mehr Mut zum Dialog fordert daher Stadtrat Herbert Dreiseitl in einem persönlichen Statement. Natürlich biete die Stadt die gesetzlich vorgeschriebenen Informationsveranstaltungen an. Doch derlei Veranstaltungen kommen für ihn oft schon zu spät und bieten ihm zu wenig Möglichkeiten zum Dialog, sind also aus seiner Sicht häufig eine kommunikative Einbahnstraße. Dreiseitl: „Die Stadt manövriert sich so oft in die Defensive.“

Mit guten Argumenten ließen sich Kritiker für ein Projekt gewinnen

Die entstehenden Konflikte und Divergenzen mit Bürgerinitiativen scheinen ihm dies zu belegen. Dies könne man anders und ein bisschen besser machen, ist der Stadtrat überzeugt, wenn man die interessierten Menschen früher und in anderer Form einbeziehe. Natürlich gebe es oft individuelle Interessen und widerspenstige Bürger, doch viele könne man mit für sich gewinnen, wenn man gute Argumente habe.