Geschichten müssen einen Anfang, eine Mitte und ein Ende inklusive einer Auflösung haben. Wer diese schlichten Anforderungen an seine Lektüre stellt, dürfte kaum den Schweizer Peter Stamm zu seinen Lieblingsautoren zählen. Und auch so mancher Oberstufenschüler in Baden-Württemberg, wo Stamms komplexer Liebesroman „Agnes“ einige Jahre lang zur Pflichtlektüre fürs Deutsch-Abi zählte, tat sich damit nicht leicht.
Peter Stamm, der in der Reihe „Literatur unter Bäumen – Lesen am See“ auf der Landesgartenschau aus seinem jüngsten Erzählband „Wenn es dunkel wird“ las, lässt in seinen Werken bewusst Leerstellen, die der Leser selbst erarbeiten muss, wie Moderator Oswald Burger betonte. Doch Mehrdeutigkeit ist nun mal eine künstlerische Kernqualität und es ist gut, wenn man das bereits in der Schule fürs Leben lernt. Nicht umsonst zitierte Marcel Reich-Ranicki am Ende des ursprünglichen „Literarischen Quartetts“ immer Brecht: „Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“
Pflichtlektüre fürs Deutsch-Abi
Dabei waren die beiden Erzählungen, die Stamm vortrug, alles andere als sperrig und gerade wegen ihrer klaren, präzisen Sprache sehr einprägsam. In der Titelgeschichte sucht eine junge Polizistin, die freiwillig auf einem einsamen Posten im Muototal dient, in der dortigen Karstlandschaft eine Frau mit zwei Kindern und begibt sich dabei auf einen Trip in die eigene Vergangenheit, in der ihr Bruder im Karst verschwand.
In einer einsamen Hütte inspiziert sie das Inventar, das auf die Anwesenheit von Kindern hinweist und registriert etwa zwei Stofftiere, die sich in eine Ecke drängen, „als seien sie in diesen hintersten Winkel geflohen“. Stamms Beschreibungen riefen bei den Zuhörenden starke Bilder hervor. Tatsächlich hatte Stamm den Text als Vorlage für eine Oper geschrieben, die im Oktober in Antwerpen uraufgeführt werden soll – inklusive künstlicher Bewässerung, die während Stamms Lesung im „Grünen Salon“ die Natur frei Haus lieferte: Es regnete in Strömen.
Dennoch konnte man sich in die zweite Geschichte „Das schönste Kleid“, das am Zürcher See spielt, gut hineinversetzen. Darin geht es um Ausgrabungen von Pfahlbauten aus der Jungsteinzeit, ein Nacktbad der Protagonistin im See und ihr Auftauchen im Evaskostüm auf einer schicken Party am Ufer. Das alles könnte – bei schönem Wetter – durchaus auch am Bodensee spielen. Es ist eine Geschichte voller Humor und sie hat tatsächlich ein Happy End. So viel zur Schublade „ernster Autor“, in die Stamm gerne gesteckt wird. Im August erscheine sein neuer Roman, informierte er. Vielschichtigkeit und hintergründiger Humor zeichneten auch den 2016 verstorbenen Autor Markus Werner aus, den Oswald Burger vorstellte. Denn in dieser Literaturreihe trifft jeweils ein zeitgenössischer Autor auf einen bereits verschiedenen.
Burger las jeweils die erste Seite der sieben Romane, die Werner hinterließ, darunter „Am Hang“, sein letztes, sehr erfolgreiches Meisterwerk, das 2004 erschienen war. Mit Stamm hat Werner auch gemeinsam, dass beide gebürtige Thurgauer und Träger des Bodensee-Literaturpreises der Stadt Überlingen sind. Werner erhielt die Auszeichnung 2006, Stamm 2012.