Es ist ein Fund wie aus einem Roman: Silja Wiedeking stöbert in einem öffentlichen Bücherregal vor dem Heliosspital in Überlingen und entdeckt einen literarischen Schatz. Zwischen den Seiten eines Kinderbuchs liegen teils handgeschriebene Briefe der dänischen Kinderbuchautorin Estrid Ott (1900–1967), adressiert an eine Freundin in Vaduz, Liechtenstein – an Maria Vonbun. Es sind die letzten bekannten Schriftstücke der in Dänemark berühmten Autorin. Estrid Ott gilt als die „Astrid Lindgren Dänemarks“.

Zwei zentrale Fragen in dieser von Silja Wiedeking real erlebten Geschichte sind noch offen, könnten aber mit Hilfe der SÜDKURIER-Leser gelöst werden: Wer ist Maria Vonbun, und wer brachte das Buch und die Briefe in das öffentliche Regal beim Krankenhaus?

Die letzten Worte der Estrid Ott in einem Brief an ihre Freundin Maria Vonbun, die Vonbun wohl am 18. Mai 1967 beantwortete, einen Tag ...
Die letzten Worte der Estrid Ott in einem Brief an ihre Freundin Maria Vonbun, die Vonbun wohl am 18. Mai 1967 beantwortete, einen Tag vor dem Tod der „Astrid Lindgren Dänemarks“. | Bild: Hilser, Stefan

Unser SÜDKURIER-Bericht handelt von den drei Hauptpersonen. Von der in Sipplingen aufgewachsenen Silja Wiedeking, von der Kinderbuchautorin Estrid Ott und von der noch unbekannten Maria Vonbun aus Vaduz.

Silja Wiedeking: Die Finderin

Silja Wiedeking wurde im Krankenhaus in Überlingen geboren und wuchs in Sipplingen auf. Sie ist die Tochter des Historikers Elmar Wiedeking, der sich der Erinnerungskultur am Bodensee widmet und den Band „Das Ende“ über die erste Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg am See und im Linzgau veröffentlichte. Ihr ganzes Elternhaus sei voller Geschichte, erzählt sie, die selbst Geschichte studierte. Ihr Studium in England in Journalismus und kreativem Schreiben entfachte in ihr die Leidenschaft, hinter alltäglichen Dingen Geschichten zu entdecken.

Silja Wiedeking vor einem öffentlichen Bücherregal in Bad Saulgau, wo wir sie für das Interview getroffen haben.
Silja Wiedeking vor einem öffentlichen Bücherregal in Bad Saulgau, wo wir sie für das Interview getroffen haben. | Bild: Hilser, Stefan

Silja Wiedeking arbeitet als Unternehmenssprecherin, aktuell in einem Pharmabetrieb in Biberach, früher im Stahlbau oder bei einem großen Schmuckhersteller in Österreich. Ob‘s um Pillen, einen Baukran oder einen Diamanten geht: Immer ist sie auf der Suche nach Geschichten, mit denen sie die Produkte ihrer Arbeitgeber in den Köpfen potenzieller Kunden platziert. Und so ist es einerseits nicht verwunderlich, dass ausgerechnet sie das Buch im Bücherregal beim Krankenhaus entdeckt – andererseits fühlt es sich für sie wie Fügung an. Denn vielleicht hätte jemand mit ungeschultem Blick die Briefe achtlos weggeworfen.

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Im Dezember 2024, einen Tag vor einer Operation ihrer Mutter, durchstöbert Silja Wiedekiing das Bücherregal an der Bushaltestelle vor dem Krankenhaus. Eigentlich will sie das Buch ihrer Mutter, die Jugendbücher früherer Jahrzehnte sammelt, schenken. Doch zwischen den Seiten von „Chicos lange Wanderung“ rutscht ihr ein Umschlag mit fein säuberlich gefalteten Briefen in die Hände. Sie erkennt sofort: „Das sind historische Zeugnisse einer bekannten Autorin.“

Die Werke der dänischen Autorin Estrid Ott wurden in viele Sprachen übersetzt.
Die Werke der dänischen Autorin Estrid Ott wurden in viele Sprachen übersetzt. | Bild: Hilser, Stefan

Estrid Ott: Die Kinderbuchautorin

Eine Biographie über die dänische Kinderbuchautorin Estrid Ott trägt den Titel „Vildfugl og Verdensborger“. Zu Deutsch: „Wildvogel und Weltenbürgerin“. Genau so lebte Ott: rastlos schreibend, in der ganzen Welt unterwegs, als Kriegsberichterstatterin und Romanautorin. 87 Bücher hat sie geschrieben, viele übersetzt, darunter auch das Ende der 1950er-Jahre geschriebene Kinderbuch „Chicos lange Wanderung“, in dem die Briefe lagen.

Estrid Ott war eine schillernde Figur. Das Bild zeigt die von Lotte Thrane verfasste Biographie über die Kinderbuchautorin.
Estrid Ott war eine schillernde Figur. Das Bild zeigt die von Lotte Thrane verfasste Biographie über die Kinderbuchautorin. | Bild: Hilser, Stefan

In den Briefen, die Ott an Maria Vonbun schrieb, erzählt sie von ihrem Leben auf Mallorca und einer Käfer-Invasion. Sie berichtet von Kuraufenthalten, Begegnungen im Sanatorium und von der Freude über ein neues Buchmanuskript, das von einem Verlag angenommen wurde. Es sollte ihr letztes Buch sein, „Can you hear my yodel“ (Kannst Du mich jodeln hören). Es spielt in der Bergwelt Liechtensteins, wo Vonbun lebte. Im letzten Satz ihres letzten Briefs entschuldigt sich Ott, für was auch immer: „I hope you will forgive me.“

Am 19. Mai 1967 stirbt Estrid Ott an den Folgen eines Schlaganfalls. Ihre letzten Worte klingen wie ein Vermächtnis, als wolle sie so kurz vor ihrem Tod mit sich und der Welt ins Reine kommen.

Die Überlinger Briefe haben inzwischen ihre Heimat gefunden. Wiedeking kontaktiert Lotte Thrane, emeritierte Professorin und Biografin Estrid Otts. Thrane veröffentlichte bereits einen Artikel über den Fund im Magazin des dänischen Autorenverbands. Seit August 2025 sind die Briefe in der Nationalbibliothek in Kopenhagen gelistet, online abrufbar und für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich.

Maria Vonbun: Die unbekannte Freundin

Wer ist Maria Vonbun, die geheimnisvolle Empfängerin der Briefe? Silja Wiedeking findet heraus, dass sie 1988 im Seniorenheim St. Martin in Eschen, Liechtenstein, verstarb. Sie hat offenbar keine eigenen Kinder, auf einem Briefumschlag wird sie noch im hohen Alter als „Fräulein“ adressiert. Auf einer Todesanzeige verabschieden sich Nichten und Neffen, keine Kinder. Diese Maria Vonbun stand in engem Briefkontakt mit Estrid Ott.

Ihre Antwortschreiben sind nicht bekannt, jedoch vermerkte Maria Vonbun auf den Briefen, die sie von Ott erhielt, fein säuberlich mit Datumsangabe, wann sie ihre Antwort schickte. Daraus lässt sich entnehmen, dass Vonbun ihren letzten Brief an Ott am 18. Mai schrieb, also einen Tag vor dem Tod von Estrid Ott. Für Wiedeking sind diese Briefe ein stilles Vermächtnis: „Es sind ihre letzten Briefe. Das finde ich sehr, sehr traurig.“

Das öffentliche Bücherregal am Krankenhaus-Kreisel in Überlingen.
Das öffentliche Bücherregal am Krankenhaus-Kreisel in Überlingen. | Bild: Hilser, Stefan

Doch das Rätsel von Überlingen bleibt: Wie gelangten die Briefe in das öffentliche Bücherregal vor dem Krankenhaus? Wer stellte sie dorthin – ein Angehöriger von Vonbun, ein Fremder, der das Buch weitergeben wollte? „Das ist die spannende Frage“, sagt Wiedeking, die herausfinden möchte, wer diese Maria Vonbun ist. Sie beschreibt ihre Intention: „Dadurch, dass man den Namen eines Menschen kennt, gibt es wieder eine Erinnerung an ihn. Selbst, wenn man nicht mehr als den Namen weiß.“