Die Tracht wurde nur noch zur Belustigung in der Fasnachtszeit hervorgeholt. Doch dann schlossen rund 50 Überlingerinnen vor 100 Jahren einen Bund: Sie würden ihre Altüberlinger Tracht nie mehr zur Fasnacht tragen, sondern zu festlichen Ereignissen wie die jährlichen Schwedenprozessionen und zu besonderen Feierlichkeiten der Stadt. Äußerer Anlass für dieses Gelöbnis war die Wiedereinweihung des Überlinger Münsters nach langer Renovierungszeit am 6.¦Dezember des Jahres 1924.
Die Tracht löst sich von der Fasnacht
Natürlich sollten an diesem für Überlingen so besonderen Festtag, der mit einem feierlichen Pontifikalamt und anschließender Aufführung des historischen Schwerttanzes gefeiert wurde, auch die prächtigen Radhauben zu Ehren des Münsters und seines Schutzpatrons glänzen. Das war nicht nur die Vision von Maria Schmid, Gründungsmitglied und ab 1924 amtierende erste Trachtenmutter.

Bedeutende Überlinger Persönlichkeiten der Gründerzeit wie Dekan und Stadtpfarrer Adolf Schwarz, der Restaurator und Heimatforscher Viktor Mezger, Bürgermeister Heinrich Emmerich und Landrat Hermann Levinger hatten sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg darum bemüht, die wertvollen Radhauben, bunten Mailänder Tücher und Seidenkleider von der Fasnacht zu lösen und der Altüberlinger Tracht ihre ursprüngliche Würde als Festtagskleid der Überlinger Bürgerin zurückzugeben.
Was das Münster mit der Gründung zu tun hat
Noch bis etwa 1850/60 war das der Mode der Biedermeierzeit entstammende seidene Gewand mit der Spitzen-bespannten Radhaube ganz selbstverständlich als Sonn- und Festtagskleid getragen worden. Dann geriet es jedoch aus der Mode. Aus der Festtags-Kleidung wurde eine „Ver“-Kleidung, die man – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur zur Fasnacht noch hervorholte. Das wollte auch Maria Schmid unbedingt ändern. Die Wiedereinweihung des Münsters bot dazu die ideale Gelegenheit und gilt seither als Geburtsstunde des Trachtenbunds. Erste offizielle Statuten erhielt der Trachtenbund 1929. Unterschrieben wurde sie neben Maria Schmid als der ersten Vorsitzenden auch von Viktor Mezger als „männlicher Beirat“.

Geschäftsfrau und erste Trachtenmutter
Doch wer war eigentlich diese rührige Mitbegründerin des Trachtenbunds? Als Maria Grathwohl wurde sie 1887 in Überlingen geboren und heiratete den Schuhmachermeister Franz Xaver Schmid. Als dieser 1917 viel zu früh verstarb, stand die junge Frau mit den zwei kleinen Töchtern Maja und Lisa allein da. Mutig beschloss Maria Schmid, sich selbständig zu machen. Sie erwarb das Haus neben der evangelischen Kirche (heute Modegeschäft Margarethe Braun), zog mit ihren Töchtern ein und eröffnete im Erdgeschoss einen Schuhladen mit Schusterwerkstatt. Etwas später kam ein weiterer Geschäftsraum dazu, in dem die findige Geschäftsfrau ihr „Strumpf- und Woll-Spezialgeschäft“ führte.
Ihre Enkelin Angelika Kitt, die als Kind im Laden gerne aushalf, erinnert sich: „In dem kleinen Laden war alles drin: Wolle, Socken, Strümpfe, mit und ohne Naht, Nähseide, Stickgarn, Handtücher und Oberleintücher, auf Wunsch mit Monogramm.“ Ihr Sinn für das Besondere und Feine ließ Maria Schmid schon als Kind die prächtigen Radhauben der Altüberlinger Tracht bewundern: „Scho als Schuelermädle hot mer‘s leid tue, daß so Manche unsre schäne Tracht in de Fasnet trage hond,“ berichtete sie 1956 in einem Vortrag vor dem Überlinger Heimatkreis.
Zeit des Nationalsozialismus
Doch schon zehn Jahre nach Gründung drohte dem Trachtenbund der Überlieferung nach das Aus. Nach Schmids schriftlich niedergelegten Erinnerungen von 1956 wurde sie 1934 vor die Kreisleitung gerufen. Dort sei ihr mitgeteilt worden, dass sämtliche Trachtenkleider und Hauben beschlagnahmt werden müssten. Gegen diesen Beschluss habe sie sich so entschlossen zur Wehr gesetzt, dass der Kreisleiter schließlich eingelenkt und das weitere Tragen der Tracht erlaubt habe. Allerdings unter der Bedingung, dass die Trachten sich nun auch in den Dienst der braunen Machthaber zu stellen hatten. 1935 wurden die Statuten gleichgeschaltet und ein neuer Paragraf 5 eingefügt: „Der Trachtenbund hat die Pflicht, am nationalsozialistischen Werke mitzuarbeiten…“. Dieser Pflicht kamen die Trachtenträgerinnen unter anderem mit ihrer Singgruppe nach, die regelmäßig bei „Kraft durch Freude“ (KdF) Veranstaltungen auftreten musste.

Erfolgsgeschichte nach Neuanfang 1949
Nach dem Zweiten Weltkrieg, am 11. Juli 1949, berief Bürgermeister Anton Wilhelm Schelle eine Mitgliederversammlung zur Neugründung des Trachtenbunds ein. Weiterhin amtierte Maria Schmid als erste Vorsitzende und Trachtenmutter. Ihre Stellvertreterin wurde Maria Löhle, Schriftführerin die spätere Trachtenmutter Käthe Birmelin. Bis 1966, ein Jahr vor ihrem Tod, leitete Maria Schmid insgesamt 42 Jahre lang die Geschicke des Traditionsvereins.
Am 19. Juli 1958 beschrieben die „Bodensee-Nachrichten“ die Erfolgsgeschichte der Trachtenfrauen wie folgt: „Gibt es ein Fest, das Überlingen ohne sie feiert? Einen Gäste-Empfang, an dem sie nicht Anteil hätten? Einen Fremden, der nicht die Kamera zückt, um das schöne Trachtenbild als Erinnerung festzuhalten?“ In der Fasnacht lebt die Tracht einzig in der Figur der Narrenmutter weiter, die in Überlingen seit 1863 belegt ist. Dank Maria Schmid und ihren Mitstreiterinnen ist die festliche Überlinger Tracht wieder zum festen Bestandteil des öffentlichen Lebens geworden.