Sira Huwiler-Flamm

Früher war es hauptsächlich das Radio, das mittels unsichtbarer Strahlen funktionierte. Im Zeitalter von Mobilfunk, W-Lan und mobilen Endgeräten wie Smartphones haben elektromagnetische Felder (EMF) rasant zugenommen. Wir sind ihnen Tag und Nacht ausgesetzt. Eine Frage, die viele Menschen umtreibt: Ist diese ständige Beschallung gefährlich?

Gabi Müller (Name von der Redaktion geändert) aus dem mittleren Wutachtal ist sich sicher: „Funk, W-Lan, Funkmasten und Stromfelder machen mich krank!“ Sobald mobile Endgeräte in der Nähe sind, fühle sie starke Schmerzen im Nacken und Kopf. Und weil uns diese Felder heute überall umgeben, leide sie jeden Tag: „Nach einem Einkauf oder einem Besuch bei Freunden fühle ich mich oft kraftlos“, sagt Gabi Müller, „mein Gesicht schwillt an, meine Verdauung macht Probleme, mein komplettes Immunsystem reagiert auf Mobiltelefone, kabellose Festnetztelefone oder W-Lan-Netzwerke.“

Knapp zwei Prozent der Deutschen bezeichnen sich selbst laut Bundesamt für Strahlenschutz als elektromagnetisch hypersensitiv, kurz: elektrosensibel. Vereine und Selbsthilfegruppen rund um das Thema sprechen sogar von über 20 Prozent der Gesamtbevölkerung. Gabi Müller ist eine von ihnen.

Elektrosmog und Strahlenschutz

„Ende der 1990er Jahre hat das angefangen“, erinnert sie sich, „obwohl ich es damals noch gar nicht benennen konnte.“ Sie zieht damals mit ihrem Mann in ein Haus im Schlüchttal, in dem ein alter Stromverteiler auf dem Dach steht. „Ich konnte nicht mehr schlafen, hatte Herzrasen mit einem Ruhepuls von 140. Nur im Erdgeschoss ging es mir gut“, sagt Gabi. Kochen am Elektroherd, Wäsche waschen mit der Waschmaschine – alles habe plötzlich begonnen, ihr zu viel zu werden. Sie sei kraftlos gewesen, habe ständig Schmerzen und Sehstörungen gehabt. Rund zehn Kilo habe sie abgenommen und wisse nicht, warum.

Als sich ihre Schwester ein Mobiltelefon zulegt, merkt sie: „Ich kann nicht ruhig am Tisch sitzen bleiben, wenn es neben mir liegt. Ich fühle mich zittrig, mein Herz rast“, erinnert sich Gabi Müller, „irgendwann habe ich eins und eins zusammengezählt und wusste: Ich bin elektrosensibel.“ Sie besucht einen Hausarzt nach dem anderen. Keiner habe eine erklärbare Ursache für Ihre Probleme gefunden. Alle hätten ihr Schmerz- oder Entzündungshemmer verschrieben und geraten: „Sie müssen Stress reduzieren.“ Doch nichts hilft. „Ich war so verzweifelt, niemand hat mich erst genommen“, so Gabi Müller.

Erstmals Verständnis

Erst Umweltmedizinerin Barbara Dohmen, die bis 2017 rund 15 Jahre lang eine hausärztliche Praxis in Murg-Hänner führte, hört ihr zu. Dohmen ist deutschlandweit eine der aktivsten Ärztinnen im Kampf darum, Elektrosensibilität als Krankheit anzuerkennen. Schon 2002 tat sie sich mit rund 100 anderen Medizinern zusammen und verfasste den „Freiburger Appell“, der auf eine gesundheitsgefährdende Wirkung von Mobilfunkstrahlung hinweisen wollte und seither von rund 1000 Ärzten und Wissenschaftlern unterzeichnet wurde.

„Als 1997 die ersten Patienten zu mir kamen, war ich selbst skeptisch“, sagt Barbara Dohmen, „aber schon bald haben sie mich überzeugt, dass Elektrosensibilität kein Hirngespinst, sondern eine ernstzunehmende Krankheit ist.“ Rund 80 Patienten, davon auch viele vom Hochrhein, behandelte sie in ihrer Praxis. Vielen hilft sie auch noch im Ruhestand, sagt Dohmen: „Der Leidensdruck ist extrem hoch. Betroffene werden belächelt statt ernst genommen. Sie fliehen wegen ihrer Beschwerden in Kellerlöcher und funkarme Wälder, schlafen teilweise sogar das ganze Jahr über draußen, im Auto oder im Wohnwagen.“ Zwei ihrer Patienten hätten sich aus Verzweiflung sogar das Leben genommen, so Dohmen.

„Besonders Menschen, die Vorerkrankungen, viel Stress oder metallische Vorbelastungen haben, etwa ihr Leben lang Amalgamfüllungen in den Zähnen hatten oder viel mit Quecksilber belastete Salzwasserfische essen, empfinden hochfrequente elektromagnetische Felder oft stärker“, schätzt die Ärztin die begünstigenden Ursachen ein, „die Metallionen setzen sich im Körper fest und sind in Urin- und Stuhlproben nachweisbar.“

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Bundesamt für Strahlenschutz gebe es keine potenzielle Gesundheitsgefährdung durch elektromagnetische Felder. Zahlreiche Studien hätten ergeben, dass bislang kein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein elektromagnetischer Felder und den gesundheitlichen Beschwerden hätten festgestellt werden können.

Barbara Dohmen ist sich hingegen sicher: „Die Mobilfunkstrahlen sind für uns alle schädlich, stören unseren Schlaf und unsere Ruhephasen“, sagt sie, „gesunde Menschen können die Wirkung der Strahlen bis zu einem gewissen Maße ausgleichen. Vorbelastete Patienten hingegen, können das nicht mehr und müssen etwa mit Herz-Kreislauf-Problemen, Tinnitus und Kopfschmerzen leben.“ Sie empfiehlt allen Menschen zum Selbstschutz: „Wenn möglich auf Schnurlostelefone und W-Lan verzichten und das Mobiltelefon insbesondere nachts und wenn es gerade nicht gebraucht wird, in den Flugmodus stellen. Außerdem: nie am Körper tragen.“

Angst vor 5G-Netzausbau

Besonders der geplante flächendeckende Ausbau des 5G-Mobilfunknetzes bereitet der Umweltmedizinerin Sorgen. „Dieses Netz wird immens stark strahlen und wegen vorgesehener zehntausender Satelliten noch die hintersten Ecken dieser Erde erreichen, sodass es keine Rückzugsorte für Betroffene mehr geben wird. Ich bin mir sicher, dass die Anzahl Betroffener rasant zunehmen wird“, sagt Barbara Dohmen, „WHO, Bundesregierung und Bundesamt für Strahlenschutz sollten vor der 5G-Zulassung Risikoforschung betreiben, Elektrosensibilität endlich ernst nehmen, die Strahlengrenzwerte senken und Rückzugsgebiete schaffen.“

Auch Gabi Müller hat große Angst vor der Einführung von 5G und befürchtet, dass ihre Schmerzen schlimmer werden. Mittlerweile ist sie berufsunfähig. Ihre Ehe sei nach über 18 Jahren Partnerschaft zerbrochen und viele Freunde hätten ihr den Rücken gekehrt. Insgesamt sei sie sieben mal umgezogen und habe sich sogar einen alten Wohnwagen, der in einem Tal steht, gekauft, um einen Notfallort im Funkloch zu haben. „Ich lebe seit über 20 Jahren ein Leben auf der Flucht“, sagt sie mit Tränen in den Augen, „das raubt mir die Kraft! Ohne meine Familie und meinen heutigen Partner hätte ich schon lägst aufgegeben.“ Besonders die Tatsache, dass sie oft nicht ernst genommen wird und ständig in Erklärungsnot ist, setze ihrer Seele zu, wie sie sagt.

Zuhause schützt sie sich mit Abschirmtüchern an den Fenstern. Ihr Freund hat ihr mit Abschirm- und Aluminiumdecken eine Abschirmhaube für das Bett gebaut, unter der sie jede Nacht schläft. Sie hat selbst ein Handy, das sie rund fünf Minuten am Tag für Rückrufe nutzt und das den Rest der Zeit im Flugmodus ist. W-Lan und sogar ein Festnetztelefon sind tabu. „Weil bei uns im Ort auch die Festnetztelefone über Router laufen“, sagt sie. Besonders dankbar ist sie auch ihrem Vermieter, der im gleichen Haus wohnt – weil er Rücksicht nehme und wenn immer möglich auch auf W-Lan und Schnurlostelefon verzichte.

Forschungsstand: Gibt es Elektrosensibilität wirklich?

  • Das sagt die Weltgesundheitsorganisation (WHO): Laut WHO berichten Betroffene am häufigsten über Hautveränderungen sowie Erschöpfung, Konzentrationsschwierigkeiten, Schwindel, Übelkeit, Herzklopfen und Verdauungsprobleme. „Die Symptome sind zweifellos real und können in ihrem Schweregrad stark schwanken“, heißt es in einem WHO-Faktenblatt aus dem Jahr 2005. Doch für die bei Elektrosensibilität auftretenden Symptome gebe es „keine ersichtliche toxikologische oder physiologische Begründung und keinen unabhängigen Nachweis.“ Zahlreiche Studien zeigen sogar, dass Betroffene die Einwirkung von Elektrosmog in Echtzeit ebenso wenig zuverlässig benennen können, wie nicht Betroffene.

Das heißt: Einzig die Tatsache, dass Betroffene die Ursache ihrer Symptome im Elektrosmog sehen, gibt dem Ganzen den Namen: „Elektrosensibilität“. Es ist kein anerkanntes medizinisches Krankheitsbild. Die WHO vermutet, dass Raumluft oder Stressreaktionen aufgrund von Ängsten vor Gesundheitsfolgen die eigentliche Ursache sein könnten oder bestehende Krankheiten verstärken können.

  • Das sagt das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS): „Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen elektromagnetischen Feldern und den Beschwerden elektrosensibler Personen kann als Fazit zahlreicher Studien mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden“, so Nicole Meßmer, Pressesprecherin beim BfS gegenüber dem SÜDKURIER. Da Betroffene aber in den meisten Fällen an realen Beeinträchtigungen leiden, empfehle das BfS, sich an Umweltambulanzen zu wenden, um andere Ursachen auszuschließen. „Es verfestigt sich in der Forschung immer mehr die Ansicht, dass der Glaube, die Erwartungshaltung und ein ausgeprägter Nocebo-Effekt an den Phänomenen maßgeblich beteiligt sind“, sagt Meßmer. Nocebo ist Latein für „Ich werde schaden“ und beschreibt die Annahme, Schaden zu erleiden, der sich dann tatsächlich in Symptomen widerspiegelt.

Doch eine Frage sieht auch die Bundesregierung in einer schriftlichen Unterrichtung an den Bundestag (2018) ungeklärt: „Wissenschaftliche Unsicherheiten bestehen weiterhin hinsichtlich der Frage nach möglichen Langzeitrisiken bei intensiver Handynutzung über mehr als 15 Jahre.“ Das Bundesamt für Strahlenschutz sieht daher weiterhin Forschungsbedarf zur Klärung offenen Fragen und hat bereits mehrere Forschungsvorhaben beim Bundesumweltministerium in Auftrag gegeben.

Sira Huwiler-Flamm