Es gibt Geschichten, die sind so schön und beeindruckend, dass sie erst einmal unrealistisch klingen: Ein junger Mann aus Lörrach wird 2020 zum Lebensretter. Das Kind, das dank seiner Hilfe überlebt, befindet sich aber in rund 12.000 Kilometer Entfernung. Möglich wurde dies durch eine Stammzellspende für ein an Leukämie erkranktes Mädchen.
Kürzlich flog Systemadministrator Moritz Rathberger (24) nach Concepción, im Süden von Chile, und traf dort zum ersten Mal auf Javiera Riquelme, die heute 13 Jahre alt ist und als genesen gilt. Eine beeindruckende Reise war es für den Lörracher: So weit war Moritz Rathberger noch nie von zu Hause weg. „Ich wusste nicht, was mich erwartet und ich war natürlich aufgeregt, Javiera kennenzulernen.“

Im Oktober war die Anfrage von den Kollegen der chilenischen DKMS (Deutsche Knochenmarkspenderdatei) gekommen: Ob Rathberger gerne seine Stammzellempfängerin kennenlernen möchte? „Das war wirklich sehr besonders“, erinnert er sich. „Etwas mulmig war mir schon, aber ich habe natürlich zugesagt. Und ich bin sehr froh, mich so entschieden zu haben.“
Ein Blick zurück:
Wer ist Javiera Riquelme?
Moritz Rathbergers Stammzell-Empfängerin Javiera hat eine lange Krankheitsgeschichte hinter sich. Im Alter von neun Jahren standen Javiera und ihre Eltern vor ihrer dritten Leukämie-Diagnose. Die Chemotherapie schlug nicht mehr an und die letzte Hoffnung war eine Stammzellspende.
Die gute Nachricht: Es gab einen geeigneten Spender in der Datenbank – die Grundvoraussetzung für eine Spende. Die Hoffnung, das wusste die Familie damals noch nicht, war Moritz Rathberger in Deutschland.
Wie Moritz Rathberger zum Stammzell-Spender wird
2017, kurz nach seinem 18. Geburtstag, hatte sich der Lörracher mit seinem Abiturjahrgang an seiner Schule in die Datenbank DKMS aufnehmen lassen. Drei Jahre nach seiner Registrierung wurde er dann im Frühjahr 2020 zur Stammzellspende aufgefordert. Moritz Rathberger absolvierte gerade ein Praktikum und saß im Büro, als er die Nachricht erhielt. „Ich war zunächst etwas überfordert“, erinnert er sich.

Die Spende beunruhigte den jungen Mann. „Spritzen und Nadeln sind nicht so mein Ding. Nachdem ich es mir aber dann in Ruhe überlegen konnte, stand für mich fest zu helfen. Schließlich war mir bewusst, dass da ein Patient war, der auf Hilfe angewiesen war. Das immer im Hinterkopf zu haben, hat mir geholfen, die Angst zu überwinden.“
Moritz spendete mitten in der ersten Phase der Corona-Pandemie. Bei den Vorbereitungen achtete er besonders darauf, sich vor dem Virus zu schützen und verzichtete auf Kontakte, beschreibt er. Doch es blieb nicht bei einer Spende.
Die Spende muss wiederholt werden
„Die Ärztin hatte mich beim ersten Mal nach der Spende für meine Tapferkeit beglückwünscht, nicht ahnend, dass wir uns so bald schon für eine weitere Spende wiedersehen würden“, erinnert sich Moritz Rathberger. Denn vier Wochen nach der ersten Spende musste er das Prozedere noch ein zweites Mal durchstehen. „Ich wurde aber wirklich gut als Spender betreut“, erinnert sich der 24-Jährige.
Was ihm geholfen hat, seine Angst zu überwinden? „Man fühlt schon für den Menschen auf der anderen Seite mit. Die zweite Spende ist mir auf jeden Fall etwas leichter gefallen, weil ich ja nun wusste, was auf mich zukommt und außerdem Kenntnis hatte, dass es ein Kind war. Nach den beiden Spenden habe ich mich über jedes positive Update zum Gesundheitszustand sehr gefreut“, sagt er.
Keine Linienflüge nach Chile
Die Schwierigkeit bestand nun darin, die Stammzellen nach Chile zu bekommen, schildern die Verantwortlichen der DKMS. Denn: „Aufgrund der Pandemie gab es keine Passagierflugverbindungen aus Deutschland.“
Die DKMS schaffte es in dieser Zeit allerdings schnell, gemeinsam mit ihren Kurierdienstleistern weltweit Lösungen zu finden und kooperierte eigenen Angaben zufolge unter anderem mit Frachtfluggesellschaften, wie Latam Cargo und Lufthansa Cargo, die in dieser Zeit die Strecken zwischen den USA, Europa und Südamerika abdeckten. „Latam Cargo brachte auch Moritz Stammzellen nach Santiago, wo Javiera und ihre Eltern sehnsüchtig darauf warteten“, informiert die DKMS.
Das erste Treffen und die zweite Familie
Im Süden Chiles, in einem Raum ihrer Schule in Concepción, treffen Moritz Rathberger und Javiera Riquelme zum ersten Mal aufeinander. „Hallo, ich bin Moritz“, sagt er und fragt, wie es ihr geht. Javiera schließt ihren Lebensretter in die Arme. Ein besonders emotionaler Moment.

„Ich war sehr aufgeregt, ich wusste ja nicht, was mich erwartet“, beschreibt Moritz Rathberger. Sorgen über die Verständigungsmöglichkeiten waren rasch verflogen, denn Javiera spricht sehr gut englisch. Für sie fühlte es sich an, als würde nun endlich das letzte fehlende Teil in ein Puzzle eingefügt: „Ich habe gespürt, dass es zwischen ihm und mir Klick gemacht hat, nicht nur weil wir Blutsgeschwister sind, sondern auch weil ich dank ihm hier bin und mein Leben genieße“, sagt Javiera gegenüber der DKMS.
Auch Javieras Eltern, Miriam und Mauricio freuen sich sehr, Moritz kennenzulernen und Dankeschön zu sagen. „Wir feiern jetzt immer zwei Geburtstage: Den 4. November, an dem Javiera geboren wurde, und den 20. Mai, an dem Moritz ihr ein zweites Leben geschenkt hat“, sagt Miriam.
Eine Woche in Chile und ein Wiedersehen in Deutschland
Moritz verbringt insgesamt eine Woche in Chile. „Ich habe viel gesehen und emotionale Momente mit den chilenischen DKMS-Kollegen, mit meiner ‚Blutsschwester‘ und ihrer Familie verbringen können. Für mich ist das ein einmaliges Erlebnis, das ich mein Leben lang nicht vergessen werde.“ Und mehr noch: „Ich wurde sogar offiziell in die Familie aufgenommen.
„Als ich dort war, habe ich erst gemerkt, wie viele Menschen die Genesung von Javiera betrifft. Daran denkt man oft gar nicht, wenn man Spendenaufrufe sieht“, gibt er zu bedenken. Wichtig ist es Moritz Rathberger aber vor allem, mit seiner Geschichte andere Menschen auf das Thema aufmerksam zu machen. „Ich würde mir wünschen, dass sich mehr potenzielle Spender bei der DKMS registrieren lassen“, sagt er.
Was ihn und seine Blutsschwester angeht, halten die beiden weiterhin Kontakt. Und auch ein Wiedersehen ist geplant: „Im Mai 2024 kommt Javiera mit ihrer Familie zu uns nach Deutschland zu Besuch.“ Dann feiert Javiera ihren vierten zweiten Geburtstag – gemeinsam mit ihrem Lebensretter.