Niemand auf der Hauptstraße im Tiengener Städtle sieht ihm an, was er im vergangenen Jahr durchgemacht hat. Manfred Klein ist groß, sportlich schlank und legt anderen Menschen gegenüber immer einen freundlichen Ausdruck an den Tag. Manfred Klein heißt eigentlich anders, doch die Redaktion hat sich entschieden, seinen echten Namen nicht zu nennen. Früher ist er mehrere hundert Kilometer in der Woche gelaufen. Sein Ziel war es immer, eines Tages einen Marathon in unter drei Stunden zu schaffen.

Doch in den vergangenen Monaten hatte er andere Dinge zu bewältigen. Manfred Klein war auf psychotherapeutische Hilfe angewiesen. „Ich hätte selbst nie gedacht, dass es mich mit 61 Jahren so wegschießt“, beginnt Klein seine Geschichte. Er berichtet davon, wie ihn seine 20 Jahre jüngere Partnerin nach vier Jahren Beziehung vom einen auf den anderen Tag verlassen hat: „Sie kam auf mich zu und erzählte mir, dass ihre Lebensplanung weitergeht – nur eben ohne mich.“

Die Nacht der Panikattacke

Anfangs habe die plötzliche Trennung keine außergewöhnlichen Folgen für den heute 62-Jährigen gehabt: „Die ersten ein bis zwei Wochen war ich einfach immer unterwegs, habe mich abgelenkt und die Wohnung neu eingerichtet, mich von alten Dingen getrennt.“ Doch als dann wieder Ruhe einkehrte, „kam eine richtig, richtig böse Nacht.“ K. sei um Mitternacht aufgewacht, habe Angstzustände bekommen und unter Schweißausbrüchen gelitten. „Die Panikattacke ging über mehrere Stunden“, sagt er. „Es hörte einfach nicht auf. Ich war patschnass. Ich wollte einfach, dass es aufhört.“ Im Gespräch macht er deutlich: Wer so etwas nicht selbst erlebt habe, könne sich nicht annähernd vorstellen, wie das sei und, was das mit einem mache.

Morgens um 5.30 Uhr habe er sich dann schließlich dazu entschlossen, seinen Neffen anzurufen. Dieser sei Arzt und habe ihm geraten, sich umgehend um psychotherapeutische Hilfe zu bemühen. Heute weiß Manfred Klein: „Das war mein Glück. Sofort auf so eine psychische Ausnahmesituation zu reagieren, ist wirklich wichtig.“ Er setzte alles in Bewegung und bemühte sich um einen Platz im Psychiatrischen Behandlungszentrums (PBZ) Waldshut-Tiengen, einer Außenstelle des Zentrums für Psychiatrie Reichenau.

Bereits nach dem Erstgespräch, nur wenige Tage nach der Panikattacke, habe Klein das PBZ nicht mehr verlassen dürfen. Zu hoch sei die Gefahr gewesen, er könnte sich selbst etwas antun. Trotz einer durchweg hundertprozentigen Belegung des PBZ bekam Klein einen Platz im offen geführten Bereich. „Meine Geschwister haben mir dann das Nötigste, wie etwa Klamotten, von zu Hause gebracht.“ Nach einem dreiwöchigen Aufenthalt „in der Offenen“, wie Klein es ausdrückt, folgten drei Wochen in der Tagesklinik. Dort habe er gelernt, wie er im Alltag mit sich anbahnenden Panikattacken umgehen könne.

Das Psychiatrische Behandlungszentrum in der Waldshuter Kaiserstraße.
Das Psychiatrische Behandlungszentrum in der Waldshuter Kaiserstraße. | Bild: Hans Christof Wagner

Jeder, der seinen stationären Platz im Psychiatrischen Behandlungszentrum Waldshut-Tiengen im Anschluss verlässt, bekomme eine Liste mit etwa 25 Kontakten zu Psychotherapeuten, die ambulante Therapie anbieten. So auch Manfred K.lein „Dann geht die Telefoniererei los“, erinnert er sich. Es gebe Verbindungen, da „gehe erst gar niemand an den Hörer.“ Bei anderen Therapeuten bekomme man einen Platz auf einer riesigen Warteliste angeboten.

„Irgendwann habe ich bei einem Anruf so etwas gesagt wie: ‚Was soll ich denn noch tun?‘“, erinnert sich Manfred Klein. Ein Volltreffer, wie sich herausstellte. Er bekam eine Einladung zu einem Erstgespräch, auf das eine Kurzzeittherapie folgte. Nicht jeder hat so viel Glück: „Viele andere resignieren auf der Suche nach einem ambulanten Therapeuten.“

Wartelisten und kaum Chancen

Chiharu Sadohara-Bannwarth ist Verhaltenstherapeutin und hat selbst eine Warteliste mit fünf bis zehn Plätzen, die immer voll besetzt ist. „60 bis 70 Prozent der Anrufe sage ich von vornherein ab“, gibt sie offen zu. Bei einer Neuaufnahme rechnet sie mit mindestens drei Monaten Therapiezeit und „wenn ich dann gleich mehrere frei werdende Plätze auf einmal neu besetze, ist es unwahrscheinlich, dass wenig später wieder etwas frei wird.“ Aktuell könne sie nicht absehen, wann sie wieder freie Kapazitäten habe. Astrid Förster-Gillé bietet Gruppen- und Einzeltherapien an. Anfragen abzusagen, das falle ihr „sehr schwer.“ Trotzdem: Bei ein bis zwei Anrufen pro Tag bleibe ihr irgendwann nichts anderes übrig. Ist ein Platz erst mal besetzt, sei es unwahrscheinlich, dass dieser nach wenigen Sitzungen wieder frei werde: „Die meisten bleiben 100 Sitzungen, das entspricht einem Zeitraum von etwa drei Jahren.“

Traumatherapeutin Uta Blankenhorn versucht, bei neuen Anrufern herauszufinden, ob es sich um eine aktuelle Krise handelt. „Derjenige kann nicht sechs Monate warten, bis er einen Therapieplatz bekommt.“ Diese Einstellung war auch das Glück von Manfred Klein.

Psychotherapeutin Uta Blankenhorn in ihrer Praxis in Lauchringen.
Psychotherapeutin Uta Blankenhorn in ihrer Praxis in Lauchringen. | Bild: Melanie Völk

In einem Gespräch überhaupt auf die eigenen psychischen Probleme aufmerksam zu machen, diese Schwelle sei laut Aussagen der Therapeutinnen heute nicht mehr ganz so hoch wie früher. „Es tut sich langsam etwas“, sind sie sich einig. Gleichzeitig wachse dadurch aber auch der Bedarf an Fachkräften. Sadohara-Bannwarth: „Vor allem jüngere Menschen haben mittlerweile eine geringere Schwelle.“ Allerdings gebe es auch Kulturen, „da ist das immer noch ein Tabuthema.“

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Auch Manfred Klein hat während seines Aufenthalts im PBZ Waldshut-Tiengen mitbekommen, dass sich noch immer Menschen für ihre psychischen Probleme schämen. Er rät jedem, sich von Anfang an Freunden oder Familienangehörigen anzuvertrauen. Ihm jedenfalls hat es geholfen. Was Manfred Klein im vergangenen Jahr gelernt hat? „Ich bin vorsichtiger geworden und gehe mit Menschen anders um. Ich weiß schließlich nie, was sie schon alles erleben mussten.“

Das sagen die AOK und die Kassenärztliche Vereinigung (KVBW) zum Thema

  • AOK: Termine zur psychotherapeutischen Sprechstunde sind generell ohne Überweisung möglich. Voraussetzung für eine weitergehende Behandlung ist eine Sprechstunde von mindestens 50 Minuten Dauer. Direkt im Anschluss an die Sprechstunde könne sich bei Bedarf eine Akutbehandlung mit bis zu 24 Einzelsitzungen in Einheiten von 25 Minuten anschließen.

    Allerdings handelt es sich bei „psychotherapeutischen Beratungen um Angebote von Sozialträgern. Diese Leistungen sind keine, die zu Lasten der Krankenkasse abgerechnet werden können“, teilt Cordelia Steffek, Pressesprecherin der AOK Hochrhein-Bodensee, mit. „Die AOK Baden-Württemberg hat sich alternativ zur Regelversorgung im Bereich Selektivverträge insbesondere für Hausärzte, Fachärzte und Psychotherapeuten starkgemacht.“ Versicherte, die an der hausarztzentrierten Versorgung teilnehmen, könnten sich ergänzend in den Facharztvertrag einschreiben.

    „Ist eine Versorgung der Kunden mit Sachleistungen nicht möglich, kann in Ausnahmefällen eine Kostenerstattung infrage kommen“, so Steffek weiter. Anträge auf Erstattungen könnten aber nur genehmigt werden, wenn eine „unaufschiebbare ambulante Psychotherapie nicht in einem zumutbaren Zeitraum bei einem Vertragspsychotherapeuten zur Verfügung steht.“ Was ein zumutbarer Zeitraum ist, bleibt offen. Für die eigentliche Sicherung der Versorgung ist die Kassenärztliche Vereinigung zuständig.
  • KVBW: In der psychotherapeutischen Versorgung im Land Baden-Württemberg habe sich in den vergangenen Jahren „eine Menge getan. Waren vor zehn Jahren noch 33 Psychotherapeuten im Landkreis Waldshut und 53 im Landkreis Lörrach, gab es 2024 bereits 47 im Landkreis Waldshut und 65 im Landkreis Lörrach“, sagt Kai Sonntag, Leiter des Stabsbereichs Kommunikation der Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg.

Kai Sonntag, Pressesprecher Leiter Stabsstelle Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg.
Kai Sonntag, Pressesprecher Leiter Stabsstelle Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg. | Bild: Juergen Altmann
  • Doch das Problem, dass die erweiterten Kapazitäten nicht ausreichen, damit alle Patienten schnell versorgt werden können, bleibt. Sonntag weiter: „Der Bedarf ist aus verschiedenen Gründen gestiegen und durch die Behandlungsmethodik kann ein Psychotherapeut immer nur eine verhältnismäßig kleine Zahl an Patienten behandeln.“ Wer sich mit Experten über das Thema austauscht, bekommt mit, welche Dimensionen dieses Problem mittlerweile angenommen hat: Manche Patienten nehmen aus Verzweiflung exorbitante Strecken auf sich, um zumindest ein Erstgespräch wahrnehmen zu können.

    Häufig vermittele die Terminservicestelle (TSS) der KVBW diese Angebote. Laut Kai Sonntag suchen sich die Betroffenen oft selbst einen Termin aus, der in den persönlichen Terminplan passt, aber eben weiter weg stattfindet. Der Pressesprecher merkt an: „Die Terminservicestelle löst nicht das Problem, dass es weniger Termine gibt, als nachgefragt werden. Die TSS führt auch nicht dazu, dass es mehr Termine gibt.“ Zusätzliche Sitze für Psychotherapeuten im Kreis Waldshut ausweisen, das kann die Kassenärztliche Vereinigung nach Angaben ihres Pressesprechers Kai Sonntag allerdings nicht. Und selbst dann „wäre noch die Frage, ob der Sitz auch besetzt werden könnte.“