Rheinfelden Emil Rathenau muss sich doch sehr wundern, dass die Herren so leger angezogen und überhaupt so viele Frauen anwesend sind. Der Herr in schwarzem Frack, grauem Gilet, mit Zylinder auf dem Kopf und Jabot am Hemdkragen teilt seine Verwunderung, aber mit der gebotenen Contenance mit. Schließlich ist er als Gründer der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) Teil der aufsteigenden Gesellschaftsschicht der Großindustriellen. Mit der Eisenbahn sei er eigenem Bekunden zufolge eigens von Berlin „in den südwestlichsten Zipfel des Deutschen Reiches“ gekommen, um potenzielle Investoren von seinen zukunftsweisenden Ideen für den Bau eines Rheinkraftwerks – des größten in Europa – zu überzeugen.

Simon Kuner, der für die historischen Führungen des Kraftwerks Rheinfelden mehrmals im Jahr in die Rolle des Visionärs und Gründers des bis zum Abriss 2011 ältesten Flusskraftwerks Europas, Emil Rathenau anno 1894, schlüpft, arbeitet für die heutige Betreiberfirma Naturenergie als Schauspieler und Moderator in der sogenannten Live-Kommunikation. Treffpunkt zur Führung ist der Ausstellungspavillon des Kraftwerks am badischen Rheinufer. Dort begrüßt er unter anderem zufällig aus dem Publikum ausgewählte Vertreter der Elektrochemischen Werke Bitterfeld (heute Degussa) und der Aluminiumwerke Neuhausen SH (heute Aluminium Rheinfelden), welche die ersten Stromabnehmer werden sollten.

Im Pavillon erklärt Kuner, alias Rathenau, anhand eines Modells des ersten Kraftwerks und einer originalen Turbine Pläne und Funktionsweise, den Erfindergeist und den Mut, die nötig waren, um Rathenaus Vision umzusetzen. So habe sich selbst der in der Wasserbaukunst versierte Schweizer Architekt Conradin Zschokke nicht getraut, das Kraftwerk wie von Rathenau geplant quer zum Fluss zu bauen. Es blieb bei der damals üblichen Bauweise mit dem Kraftwerksbau längs zum Ufer und einem Stauwehr oberhalb, das das Wasser zum Kraftwerk lenkte.

1000 Arbeiter arbeiteten mit Schaufel, Picke und Loren Tag und Nacht am Kraftwerk – und das ist wörtlich zu nehmen: Mit Dampfmaschinen und Generatoren sorgte Rathenau für elektrisches Licht auf der Baustelle – damals eine Sensation. Neben den Direktabnehmern in der Industrie plante Rathenau von Anfang an, den Strom über Drei-Phasen-Wechselstromleiter bis nach Basel zu transportieren, um dort etwa die Trams anzutreiben. Die zeitgenössische Presse bezeichne ihn wegen seiner Pläne als „Phantasten“.

Die sehr unterhaltsame und humorvolle Art von Kuners Erzählungen ergibt sich daraus, dass er aus seiner Rolle von 1894 heraus scheinbar in die Zukunft blickt – und etwa prophezeit, dass die vielen Arbeiter aus aller Herren Länder nach dem Bau bleiben würden und sich eine zweite Stadt neben dem Rheinfelden am gegenüberliegenden Schweizer Ufer entwickeln würde. Dabei spielt Kuner immer wieder auf viele interessante Aspekte der damaligen Gesellschaft an, zitiert etwa Kaiser Wilhelm II., dass sich die neumodischen Automobile nie durchsetzen würden – allein schon aus Mangel an Chauffeuren – und berichtet wie erwähnt von der gesellschaftlichen Stellung der Frau, von denen die erste an der Universität Freiburg im Breisgau zum Studium zugelassen worden sei, im Vorlesungssaal aber getrennt hinter einem Paravent sitzen musste, „um keinen Trubel auszulösen“.

Die anderthalbstündige Führung folgt dem Rheinufer aufwärts zum neuen Kraftwerk. Hier erhalten die Teilnehmer einen Blick in den heutigen Turbinenraum. Mit dem Hinweis, dass heute vier Turbinen mit 1,5 Millionen Litern Wasserdurchfluss pro Sekunde 100 Megawatt Strom produzieren, wo vor 130 Jahren 20 Turbinen mit 700.000 Litern 16 Megawatt produzierten, macht Kuner den technischen Fortschritt deutlich, der weit über das hinausgeht, was sich Rathenau vorstellen konnte.

Die nächste Führung ist am 8. August, 14¦Uhr. Treffpunkt ist der Ausstellungspavillon „Kraftwerk 1898“ in der Unteren Kanalstraße in Rheinfelden. Teilnahme gratis, Anmeldung verpflichtend (www.naturenergie.de).